Tagebuch von Friedrich Wilhelm Christoph Daniel von der Schulenburg (1843–1921) aufgezeichnet von Helene von der Schulenburg, geb. von Schöning. Die Tagebucheintragungen des Jahres 1870 dokumentieren den Beginn und die erste Phase des Deutsch-Französischen Krieges aus der Sicht von Friedrich Wilhelm Christoph Daniel von der Schulenburg, genannt Fritz. Nach der Mobilmachung im Juli nimmt er als Reserveoffizier beim Magdeburger Husarenregiment Nr. 10 teil.
Die Aufzeichnungen spiegeln die Anspannung der Anfangszeit, die teils beschwerlichen Märsche, erste Begegnungen mit französischer Bevölkerung sowie die wachsende Routine militärischer Abläufe. Es finden sich Hinweise auf Erschöpfung, logistische Herausforderungen, aber auch erste Reflexionen über die kriegsbedingten Umwälzungen in Stadt und Land. Zahlreiche Stationen in Nordostfrankreich (u. a. Sedan, Reims, Châlons) belegen den Vormarsch der preußischen Truppen. Zugleich treten immer wieder persönliche Momente hervor – Kameradschaft, Beobachtungen zur Landschaft oder architektonische Eindrücke. Die Schilderungen sind meist sachlich, jedoch an einzelnen Stellen emotional gefärbt, etwa bei religiösen Feiern oder familiären Gedanken. Insgesamt zeichnen die Einträge ein detailreiches Bild der ersten Kriegsmonate aus Perspektive eines gebildeten jungen Offiziers.
Die wichtigsten Stationen von Fritz im Krieg von 1870/1871 werden auf dieser Karte visualisiert
Dienstzeit und Vorbereitungsphase
5. Januar 1870
Nach der Weihnachtsfestzeit in Angern wieder in Frankfurt a. d. Oder eingetroffen, den Winter dort sehr gesellig verlebt, auch viel im Hause des Präsidenten (v. d. Reg.) v. Nordenflycht verkehrt. Während des Aufenthalts in Frankfurt, der sich nach dem Krieg und mehrmonatlicher Abwesenheit in Magdeburg bis 1. September 1879 ausdehnte, auch Ausflüge in die Nachbarschaft gemacht, z. B. nach Messow zu v. Bornstedts, nach Balkau, Mackendorf auf Lebus, Sieversdorff. General v. Stülpnagel und Graf Schwerin als oberste Militärbehörde zu nennen.
[Kommentar: Dieser Eintrag wurde vermutlich retrospektiv ergänzt. Helene oder Friedrich Wilhelm Christoph Daniel erinnert sich hier an den gesellschaftlich geprägten Winter in Frankfurt an der Oder. Das Haus des Präsidenten von Nordenflycht (vermutlich Präsident eines Gerichts oder einer höheren Verwaltungsstelle) war offenbar ein Zentrum des geselligen Lebens. Die genannten Ortsausflüge (Messow, Balkau, Mackendorf, Sieversdorff) lagen in der Umgebung von Frankfurt oder im Lebuser Land. General von Stülpnagel und Graf Schwerin stehen sinnbildlich für die militärische Autorität in der Region.]
1. Mai 1870 (Nachtrag)
Von Aschersleben aus zum Pferderennen in Naumburg. Vorher Claus Bismarck in Halle besucht und dann zu B. von Brandenstein nach Merseburg.
[Kommentar: Der Ausflug zum Pferderennen unterstreicht die aristokratischen Freizeitgewohnheiten. Claus Bismarck könnte ein Verwandter des Fürsten Otto von Bismarck sein. Auch die Familie von Brandenstein gehörte zum preußischen Landadel. Merseburg war Sitz einer preußischen Regierungsstelle und Garnison.]
2. Mai 1870
Zur Dienstleistung bei den 10ten Husaren in Aschersleben seit 20. April bis 31. Mai. Von dort Ausflüge in die Nachbarschaft und Himmelfahrtstage nach Hohenerxleben, auch nach Merseburg, Gänsefurth, Gattersleben und Meisdorf, auf Ausflug durch den Harz.
[Kommentar: Der Aufenthalt beim 10. Husarenregiment markiert die militärische Vorbereitung. Aschersleben war Garnisonsstadt. Die genannten Orte lagen im Harzvorland (Meisdorf, Hohenerxleben) oder in der Magdeburger Börde (Gänsefurth, Gattersleben). Die Ausflüge zeigen sowohl landschaftliches Interesse als auch soziale Mobilität. Im Deutsch-Französischen Krieg von 1870/71 war das Regiment an zahlreichen Gefechten (Weißenburg, Wörth und Spichern) beteiligt. In der Schlacht von Mars-la-Tour ritt es bei Vionville eine Attacke. Als die deutschen Truppen Paris eingeschlossen hatten, war das Regiment den Belagerungstruppen zugeteilt. Am 20. Juni 1871 kehrten die Husaren nach Aschersleben zurück.]
Mobilmachung und Abmarsch ins Feld
15. Juli 1870
Kriegserklärung Frankreichs. Rückkehr des Königs aus Ems. Enthusiastischer Empfang. Mobilmachungsorder.
[Kommentar: Die Kriegserklärung Frankreichs am 19. Juli 1870 war die Folge der sogenannten Emser Depesche. Der König kehrte aus dem Kurort Ems nach Berlin zurück und rief die Mobilmachung aus. Die Eintragung bezieht sich auf den emotional aufgeladenen Moment der politischen Wende.]
19. Juli 1870
Eintreffen in Angern von Frankfurt a. d. Oder aus nach der Mobilmachung. Eltern tags zuvor von Kreuznach zurückgekehrt, Bruder Kurd schon fort.
[Kommentar: Friedrich Wilhelm Christoph Daniel kehrt nach Angern zurück, das familiäre Zentrum. Der Hinweis auf den bereits abgereisten Bruder Kurd (ebenfalls Soldat) unterstreicht die familiäre Einbindung in die Mobilmachung.]
20. Juli 1870
Abreise von Angern nach Aschersleben zum Regiment, um nach Frankreich in den Krieg zu ziehen.
[Kommentar: Der tatsächliche Kriegseinsatz beginnt. Das Regiment formiert sich zum Ausmarsch.]
20. Juli 1870
Abreise von Angern nach Aschersleben zum Regiment, um nach Frankreich in den Krieg zu ziehen.
25. Juli 1870
Ausrücken von Aschersleben.
[Kommentar: Dies markiert den eigentlichen Beginn des Feldzuges. Aschersleben war Garnisonsstadt des 10. Husarenregiments.]
27. Juli 1870
Erstes Marschquartier in Neckarshausen. Bei Graf Abnendorf (?) sehr gute Aufnahme.
[Kommentar: Neckarshausen liegt vermutlich am Neckar in Baden-Württemberg. Eine sichere Identifikation des Gastgebers „Graf Abnendorf“ ist noch offen. Möglicherweise Verschreibung.]
28.–30. Juli 1870
Marschquartier in Laumersheim beim Prediger des Orts und der Pfalz.
29. Juli 1870
Abstecher von Laumersheim nach Worms.
[Kommentar: Worms war eine bedeutende Rheinmetropole. Der kurze Ausflug während des Stationierungsquartiers zeigt, dass es noch keine unmittelbare Gefechtsnähe gab.]
31. Juli 1870
Biwak bei Dürkheim, strömender Regen.
[Kommentar: Dürkheim, heute Bad Dürkheim, lag im Aufmarschgebiet nahe dem Pfälzerwald. Die zunehmende Truppenbewegung wird vom schlechten Wetter begleitet.]
1. August 1870
Biwak bei Kaiserslautern.
[Kommentar: Kaiserslautern liegt an der strategischen Ost-West-Achse in Richtung Saar. Der Vormarsch auf französisches Gebiet konkretisiert sich.]
Vormarsch bis zur deutsch-französischen Grenze
2. August 1870
Marschquartier Lambsdorf bei Saarbrücken. Ersten Kanonendonner gehört.
[Kommentar: Die Nähe zur Grenze ist nun erreicht. Der Eintrag ist bedeutsam: Das Hören der ersten Kanonenschüsse bedeutete für viele Soldaten den psychologischen Übergang vom Manöver zur Realität des Krieges.]
3. August 1870
Sechster Blieskastel Quartier mit Wedell zusammen. Tanzvergnügen durch Alarmtrompete gestört. Saarbrücken kurzzeitig von den Franzosen besetzt.
[Kommentar: Das Zusammensein mit dem Kameraden Wedell wird in späteren Einträgen häufig erwähnt. Das gestörte Tanzvergnügen zeigt die abrupte Konfrontation mit der Kriegswirklichkeit.]
Frühe Schlachten im Elsass und Lothringen
4. August 1870
Erster glänzender Sieg im Feldzug gegen Frankreich bei Weißenburg.
[Kommentar: Die Schlacht bei Weißenburg (Elsass) markierte den deutschen Kriegseintritt mit einem entscheidenden frühen Erfolg der III. Armee unter Kronprinz Friedrich.]
6. August 1870
Großer Sieg bei Wörth.
[Kommentar: Die Schlacht bei Wörth (auch Schlacht bei Reichshofen) war eine der ersten großen Schlachten. Sie kostete beiden Seiten hohe Verluste, endete aber mit einem preußisch-deutschen Sieg.]
Am selben Tage siegreiches Gefecht bei Saarbrücken. Erstürmung der Spicherer Höhen. Bruder Kurd hierbei zum ersten Mal dem Kugelregen ausgesetzt.
[Kommentar: Die Spicherer Höhen (heute Saarbrücken) wurden unter hohen Verlusten erstürmt. Der Bruder des Tagebuchverfassers erlebte hier seine Feuertaufe. Diese Schlacht ging als Symbol des Mut- und Leidenswillens der preußischen Truppen in die Erinnerungskultur ein.
Nach Bliesbrücken. Erster französischer Ort in Lothringen. Erste Feldwache im Feindesland auf 36 Stunden. Kanonendonner gehört.
[Kommentar: Die Überschreitung der Grenze nach Frankreich war psychologisch und strategisch bedeutsam. Die eigene Verwundbarkeit wird durch die 36-stündige Wachstellung betont.]
9. August 1870
Kantonnement Herbitzheim an der Saar. Die Frauen des Ortes bringen Essen.
[Kommentar: Dieser Eintrag zeigt eine frühe Form pragmatischer Verständigung zwischen Soldaten und Zivilbevölkerung im Feindesland.]
10. August 1870
Ausgerückt über Landroff. Ab hier französische Sprache allgemein. „Mr. parle très bien!“
[Kommentar: Ein augenzwinkernder Kommentar zur Sprachsituation. Die fremde Umgebung wird spürbar, aber auch mit Neugier begegnet.]
11. August 1870
Marschquartier Fontenz. Wirtsleute bitten, sie auf dem Rückweg wieder zu besuchen.
[Kommentar: Der freundliche Wunsch der Wirtsleute unterstreicht die relativ gemäßigte Kriegssituation in diesem Gebiet. Trotz der Okkupation ist ein menschliches Miteinander möglich.]
12. August 1870
Biwak bei Baucourt, zwei Meilen von Metz.
[Kommentar: Die strategische Nähe zu Metz ist bemerkenswert. Die Festung war einer der wichtigsten französischen Verteidigungspunkte im Osten.]
13. August 1870
Biwak bei Bleynaud. Aus den Weinbergen bei Pont-à-Mousson beschossen beim Vorgehen als Éclaireur.
[Kommentar: Erste direkte Feindberührung als Spähtrupp. Die Lage bei Pont-à-Mousson zwischen Metz und Nancy zeigt den Vorstoß der Kavallerie.]
14. August 1870
Siegreiches Treffen bei Metz. Biwak bei Thiancourt unweit Pont-à-Mousson.
[Kommentar: Die Scharmützel rund um Metz münden in das große Einschließungsmanöver der Stadt. Die deutsche Strategie ist auf Einkreisung angelegt.]
Entscheidungsschlachten um Metz und Mars-la-Tour
16. August 1870
Schlacht und Sieg bei Mars-la-Tour. Fritz unversehrt, das Pferd verwundet.
[Kommentar: Die Schlacht bei Mars-la-Tour war eine der heftigsten Begegnungen des Krieges. Ziel war, die französische Rheinarmee unter Marschall Bazaine am Rückzug zu hindern – mit Erfolg. Persönliche Nähe zur Gefahr wird durch das verwundete Pferd angedeutet.]
„Major von Hertell tot. Biwak bei Sponville.“
[Kommentar: Der Verlust ranghoher Offiziere ist Ausdruck der Härte des Gefechts. Der Eintrag ist knapp, aber eindrücklich.]
„Fandest zwei vierblättrige Kleeblätter.“
[Kommentar: Ein privates, fast kindliches Detail, das einen Kontrast zur Kriegsrealität bildet. Solche Einfügungen sind charakteristisch für den Versuch, Sinn oder Schutz in Symbolen zu finden.]
18. August 1870
Schlacht und Sieg bei Gravelotte.
[Kommentar: Die Schlacht bei Gravelotte–St. Privat war die größte des Krieges und entscheidend für die Einschließung von Metz. Die preußischen Verluste waren enorm.]
Marsch durch Lothringen und Ardennen bis Sedan
19. August 1870
Biwak bei St. Air (?) auf dem Felde der großen Schlacht vom Vortag. Abends Feldgottesdienst: „Ach bleib mit deiner Gnade…“. Choral: „Jesus meine Zuversicht“ erklingt von St. Marie, wo viele Gefallene bestattet wurden, darunter Robert Patow. Später nach Brie abgerückt.
[Kommentar: Der Choral „Jesus meine Zuversicht“ galt als Inbegriff protestantischer Sterbe- und Hoffnungskultur. Der Tod Robert Patows (aus dem Bekanntenkreis?) wird erwähnt. Die tiefe religiöse Emotionalität kontrastiert mit dem Marschalltag.]
20. August 1870
Von Brie nach Norroy-le-Sec. Quartier mit Redern zusammen.
[Kommentar: Der Name Redern taucht mehrfach auf. Vermutlich ein enger Kamerad aus dem Offizierskorps.]
21. August 1870
In Brigadeverband nach Morgemoulin marschiert. Leute dort ganz zutulich.
[Kommentar: Erneut wird das relativ gute Einvernehmen mit der französischen Bevölkerung betont. Diese Notiz widerspricht gängigen Bildern von brutaler Okkupation.]
22. August 1870
In Morgemoulin nun endlich erste Briefe (vom 26. u. 30. Juli, 3. August) aus der Heimat erhalten. Gute Nachrichten.
[Kommentar: Post aus der Heimat war moralisch essenziell. Die Verzögerung zeigt die Schwierigkeiten der militärischen Feldpost.]
23. August 1870
Bei Regenwetter ins Quartier nach Consenvoye sur la Meuse.
24. August 1870
Treffen mit Bruder Kurd während des Krieges in Etain.
[Kommentar: Eine seltene Gelegenheit zur persönlichen Begegnung. Diese privaten Momente wurden besonders hervorgehoben.]
25. August 1870
Quartier St. Ménehould, freundliches Städtchen mit hohem Berg.
26. August 1870
Marsch nach Grand Pré, Biwak im hübschen Wald. Laubhütten gebaut.
[Kommentar: Der Lagerbau mit Laubhütten erinnert an alte Heerestraditionen, aber auch an Improvisation in Abwesenheit fester Unterkünfte.]
27. August 1870
Unter Vorpostengefechten über Grand Pré nach Bugoncy. Einige Gefangene gemacht vom Douay’schen Korps.
[Kommentar: Das französische Douay-Korps war Teil der nordöstlichen Verteidigung. Die Zahl der Gefechtskontakte nimmt nun deutlich zu.]
28. August 1870
Feldwache vor Grand Pré bei Bugoncy ohne Verbindung nach rechts oder links. Nachts heftiges Unwetter, Feind ganz in der Nähe.
[Kommentar: Die Stellung ist gefährlich. Die Isolation des Vorpostens zeigt die Risiken in vorgeschobener Kavallerieposition.]
29. August 1870
Zu spät vom Vorposten bei Grand Pré abgelöst, gezwungen allein weiterzumarschieren nach St. Vaubourg (Ardennen). Wieder Brief erhalten. Muss oft Dolmetscher sein.
[Kommentar: Der Eintrag zeigt neben dem Stress des Alleinmarschs die sprachliche Rolle Schulenburgs – möglicherweise beherrschte er Französisch gut.]
30. August 1870
Schlacht und Sieg bei Beaumont. Am 30. von St. Vaubourg ausgerückt in Rendezvousstellung bis 19 Uhr abends. Nur fernen Kanonendonner gehört. Ins Quartier.
[Kommentar: Die Notiz „Schlacht und Sieg bei Beaumont“ bezieht sich auf eine der entscheidenden Auseinandersetzungen im Vorfeld der Schlacht von Sedan. Am 30. August 1870 besiegten preußische Truppen unter General von Alvensleben das französische IV. Korps unter General de Failly bei Beaumont-en-Argonne. Die Schlacht führte zu erheblichen französischen Verlusten und trug maßgeblich dazu bei, die französische Armee nach Sedan zurückzudrängen.
Friedrich Wilhelm Christoph Daniel von der Schulenburg hielt sich an diesem Tag in St. Vaubourg auf, also südöstlich des eigentlichen Gefechtsfeldes, und war mit seiner Einheit in eine Rendezvousstellung beordert worden – eine typische Bereitstellung für mögliche Flankendeckung oder Nachrücken. Seine Notiz, er habe „nur fernen Kanonendonner gehört“, dokumentiert eindrücklich die Erfahrungsdimension des „Wartens am Rande der Schlacht“ – ein wiederkehrendes Motiv in Kriegstagebüchern, das zeigt, wie oft Soldaten geografisch nah, aber funktional abwartend positioniert waren.
Obwohl Schulenburg nicht direkt in die Kämpfe eingriff, benennt er das Ereignis dennoch als „Schlacht und Sieg bei Beaumont“. Das weist auf die rasche Verbreitung militärischer Nachrichten innerhalb der Truppe hin und zugleich auf die Selbstverortung im Gesamtsieg: Auch ohne eigene Kampfhandlung wurde die Zugehörigkeit zur siegreichen Armee als identitätsstiftend empfunden..]
31. August 1870
Wieder auf Wartestellung. Schon mittags ins Quartier Beaullemont, dann alarmiert. Französische Infanterie vermutet. Aus einem haltenden Zug wurde ein furchtbares Feuer eröffnet, doch machten sich die Franzosen bald aus dem Staube.
[Kommentar: Die Notiz vom 31. August 1870 beschreibt eine typische Situation des operativen Zwischenraums im Vormarsch auf Sedan: „Wieder auf Wartestellung […] alarmiert […] aus einem haltenden Zug wurde ein furchtbares Feuer eröffnet“. Der Ort Beaullemont, südlich von Beaumont gelegen, befand sich zu diesem Zeitpunkt bereits im erweiterten Einflussbereich der preußischen Truppen, während sich französische Einheiten – nach ihrer Niederlage bei Beaumont – unkoordiniert zurückzogen.
Die Beschreibung der Situation deutet auf einen plötzlichen Überfall kleiner französischer Einheiten oder Nachzügler hin. Die Wendung „aus einem haltenden Zug wurde ein furchtbares Feuer eröffnet“ könnte sich auf eine Bahnverbindung oder auch auf eine militärische Kolonne beziehen – der Begriff „Zug“ ist in diesem Kontext mehrdeutig. Entscheidend ist: Schulenburg schildert ein kurzes, heftiges Gefecht ohne feste Front – ein Hinweis auf die Entgrenzung der Kampflinien in dieser Phase des Krieges.
Die Reaktion der Franzosen („machten sich […] aus dem Staube“) spricht für die geringen Kampfmöglichkeiten oder die Auflösungstendenz einzelner feindlicher Verbände. Der Tag nach der Schlacht bei Beaumont ist geprägt von Unsicherheit, Alarmbereitschaft und sporadischen Feindkontakten, wie sie für Kavallerieeinheiten im Vorfeld großer Hauptgefechte typisch waren.]
1. September 1870
Schlacht und Sieg bei Sedan. Brief des Kaisers Napoleon an den König, er übergibt seinen Degen, stellt sich als Gefangener.
„Welch eine Wendung durch Gottes Gnade!“ Kantonnement Beaullemont. Es ist die Bestimmung der Kavalleriedivision, der Armee durch schleierartiges Vorausschwärmen zu nutzen.
[Kommentar: Die Schlacht bei Sedan markiert einen historischen Wendepunkt des Deutsch-Französischen Krieges und wurde von Friedrich Wilhelm Christoph Daniel von der Schulenburg im Tagebuch mit bemerkenswerter Kürze und zugleich tief empfundener Bedeutung festgehalten: Der französische Kaiser Napoleons III. kapituliert, übergibt persönlich seinen Degen und wird Gefangener des preußischen Königs – ein symbolischer Akt, der das Ende des Zweiten Kaiserreichs besiegelt und Europa dauerhaft verändert.
Die Reaktion Schulenburgs – „Welch eine Wendung durch Gottes Gnade!“ – offenbart eine typisch adelige Deutungstradition im Zeichen der Vorsehung: Der militärische Erfolg wird nicht primär strategisch, sondern theologisch gerahmt. Diese religiöse Sinngebung verstärkt sich im Tagebuch immer wieder, etwa durch die Erwähnung von Chorälen, Feldgottesdiensten und Bibelversen.
Gleichzeitig enthält der Eintrag eine militärische Standortbestimmung: Die Kavalleriedivision, der Schulenburg angehört, sei bestimmt, durch „schleierartiges Vorausschwärmen“ die Bewegungen der feindlichen Armee zu decken oder aufzuklären. Der Begriff verweist auf das taktische Konzept der Kavallerieschleier, also das Fächern und Streuen berittener Einheiten zur Sicherung der Hauptverbände – eine typische Aufgabe der Husaren.
Diese Verbindung von sakralem Deutungsmuster und technischer Kriegsfunktion kennzeichnet Schulenburgs Selbstverständnis als adliger Offizier: Der Krieg ist ihm gleichermaßen göttliche Fügung, persönliche Bewährungsprobe und ehrenvolle Pflicht.]
Kapitulation von Sedan und Marsch auf Reims
2. September 1870
Begegnung König Wilhelms mit Napoleon im Schlößchen Bellevue. Wilhelmshöhe ihm zum Aufenthaltsort angewiesen.
[Kommentar: Die formelle Begegnung zwischen dem besiegten Kaiser und dem preußischen König war ein symbolträchtiger Moment der neuen europäischen Machtordnung.]
Von Beaullemont ausgerückt an der Eisenbahn nach Faux, schwieriges Terrain, viele Gräben zu springen. Nach Amagne, Rendezvous der Brigade. Feindliche Infanteriekolonne getroffen, Feind zog sich zurück. Einige Gefangene, Gepäck u. s. f. mit ins Quartier Auboncourt gebracht.
[Kommentar: Der zweite Teil des Eintrags beschreibt einen taktischen Vorstoß über unwegsames Gelände in Richtung Faux und Amagne, mit Kontakt zu einer feindlichen Infanteriekolonne, die sich zurückzieht. Die Situation kennzeichnet die Nachwirkungen der Schlacht von Sedan: Während das Zentrum kapituliert hat, leisten französische Restverbände dezentralen Widerstand. Der Fund von „Gefangenen, Gepäck u. s. f.“ verweist auf die sich auflösenden französischen Formationen und ihren hastigen Rückzug.]
3. September 1870
Nach St. Remy gerückt.
4. September 1870
Nach Pom… – 1 Husar (11. Regiment) von einem Bauern erschossen. Zur Strafe das Dorf angesteckt. Großer Schrecken! Danach Einrücken in Reims, herrliche Stadt. Brillantes Quartier beim Engländer Mr. Jonathan Holden, Besitzer der größten Wollspinnerei der Welt. Kathedrale besucht.
[Kommentar: Dieser Eintrag dokumentiert eindrucksvoll die Ambivalenz des Krieges zwischen Frontdisziplin, Repressalie und kultureller Begegnung. Die Notiz, dass ein Husar des 11. Regiments „von einem Bauern erschossen“ wurde, verweist auf ein in dieser Kriegsphase häufiges Phänomen: den bewaffneten Widerstand einzelner Zivilisten oder sogenannter franctireurs (Freischärler), die außerhalb der regulären französischen Armee operierten. Solche Übergriffe waren von der preußischen Armeeführung als völkerrechtswidrig eingestuft worden – das Vergeltungsprinzip wurde systematisch durchgesetzt, auch zur Abschreckung.
Die Reaktion – „Zur Strafe das Dorf angesteckt“ – war eine standardisierte Strafmaßnahme der Zeit, aber aus heutiger Perspektive klar als Kriegsverbrechen gegen Zivilisten einzuordnen. Der Tagebuchautor berichtet den Vorfall ohne moralische Kommentierung, was typisch ist für viele militärische Aufzeichnungen des 19. Jahrhunderts: Die emotionale Erschütterung („Großer Schrecken!“) betrifft eher das Geschehen als dessen ethische Bewertung.
Umso stärker tritt der Kontrast zutage: Am selben Tag erfolgt das Einrücken in Reims, wo Schulenburg ein „brillantes Quartier“ beim englischen Unternehmer Jonathan Holden (1828–1906), englischer Textilindustrieller, zeitweise Besitzer des Schlosses Marzilly, dem Inhaber der angeblich „größten Wollspinnerei der Welt“, erhält. Die Erwähnung der Kathedrale von Reims – Krönungsort der französischen Könige – markiert ein symbolisches Moment preußischer Präsenz im kulturellen Herz des französischen Königreichs.]
5. September 1870
Von Reims nach Igny (?), Quartier in einem Gartenhäuschen, viele schöne Früchte.
6. September 1870
Durch Reims zur Armee des Kronprinzen von Sachsen, Posten nach Bernécourt. Kleiner Ort, Ruhetag. Fahrt nach Reims, auch Hauptquartier des Königs und des Kronprinzen. Sehr reges Treiben dort. Entzückt von der prachtvollen Kathedrale. Diner bei Mr. Holden.
[Kommentar: Das Diner beim britischen Unternehmer Holden verweist auf ökonomische und politische Netzwerke, die über nationale Grenzen hinausreichten.]
Annäherung an Paris und Beginn der Belagerung
7. September 1870 – [kein Eintrag]
8. September 1870
Marschquartier Cormecy. Pulvermagazin von Laon in die Luft gesprengt.
[Kommentar: Die knappe Notiz „Pulvermagazin von Laon in die Luft gesprengt“ verweist auf ein verbreitetes taktisches Vorgehen in der Defensive: die gezielte Zerstörung militärischer Infrastruktur vor dem Rückzug. Solche Selbstsprengungen dienten dazu, Munition, Nachschub oder strategische Stützpunkte nicht in die Hände des Gegners fallen zu lassen. Laon war dabei von besonderer Bedeutung – es handelte sich um eine stark befestigte Stadt auf einem Felsenplateau, die als Teil der nordfranzösischen Verteidigungslinie fungierte.
Dass Schulenburg, der sich zu diesem Zeitpunkt in Cormécy (westlich von Nancy) befand, den Vorfall registrierte, zeigt die Reichweite militärischer Nachrichten im Feld – vermutlich über Kurierreiter oder direkte Beobachtung der Rauchwolke. Es spricht auch für die Aufmerksamkeit des Autors gegenüber operativen Bewegungen jenseits seines eigenen Wirkungsbereichs.
Die Eintragung lässt zudem erkennen, dass sich die Zerstörungsdynamik des Rückzugs nicht auf kleinere Dörfer beschränkte, sondern auch große, befestigte Städte betraf. Laon wurde kurz darauf von preußischen Truppen besetzt, die Sprengung des Pulvermagazins war also Teil der verzweifelten französischen Rückzugsmaßnahmen nach den Niederlagen bei Sedan und Metz.]
9. September 1870
Ruhetag in Villers-sur-l’Aisne. Gutes Quartier im hübschen Schloss des Grafen de Chévigny. Herrschaft ist zu Hause. Schrecklich, wie viele Todesnachrichten eintreffen!
[Kommentar: Der Eintrag markiert einen Moment der Ruhe im Vormarsch, jedoch keine emotionale Entlastung. Die Formulierung „Schrecklich, wie viele Todesnachrichten eintreffen!“ lässt die seelische Erschütterung des Autors durch die Verluste im engeren Kameradenkreis deutlich hervortreten. Auch wenn Schulenburg selten offen über seine Gefühlslage schreibt, ist dieser Ausruf Ausdruck einer wachsenden psychischen Belastung durch das Kriegsgeschehen, insbesondere nach den schweren Kämpfen um Metz, Gravelotte und Sedan.
Gleichzeitig verweist der Eintrag auf eine zivilisierte Form der Kriegsbegegnung zwischen dem deutschen und französischen Adel: Das „hübsche Schloss des Grafen de Chévigny“ dient als komfortables Quartier, die Herrschaft ist zu Hause – und offenbar bereit, preußische Offiziere aufzunehmen. Dies war kein Einzelfall: Viele französische Adelsfamilien verhielten sich während des Krieges neutral oder loyal, distanzierten sich vom republikanischen Widerstand und pflegten mitunter sogar kulturelle oder genealogische Verbindungen zum deutschen Hochadel.
Dass Schulenburg diesen Aspekt betont, unterstreicht seine Wahrnehmung des Krieges nicht nur als nationalen, sondern auch als standesübergreifenden Konflikt, in dem adlige Etikette und gegenseitiger Respekt weiterhin Geltung beanspruchen – eine Form sozialer Kontinuität im Ausnahmezustand.]
10. September 1870
Kantonnement Vasseny, reizend gelegen.
11. September 1870
In Vasseny schöner, stiller Sonntag mit freundlichem Sonnenschein. Ein Freudentag durch Empfang vieler Briefe und Pakete.
12. September 1870
Marsch an Mont-de-Soisson mit sehr alter Templerkirche vorüber nach Farey; dort war 1814 eine Kirche zerstört – „par des ennemis, qui n’étaient pas si gentils que vous“.
[Kommentar: Die Eintragung vom 12. September 1870 verbindet auf charakteristische Weise militärische Bewegung, historische Reflexion und interkulturelle Wahrnehmung. Besonders aufschlussreich ist der Bericht über die Station Farey, wo sich die Bevölkerung an die Zerstörung einer Kirche im Jahr 1814 erinnert – zur Zeit der Befreiungskriege gegen Napoleon. Der überlieferte Satz „par des ennemis, qui n’étaient pas si gentils que vous“ („von Feinden, die nicht so nett waren wie Sie“) offenbart eine interessante Dynamik zwischen Besatzern und Zivilbevölkerung: höflich distanziert, aber nicht feindselig. Es handelt sich um ein subtiles Lob an die preußischen Offiziere, wohl zur Wahrung des Friedens im Quartier, aber auch Ausdruck einer gewissen Bewunderung für Disziplin und Umgangsformen.
In der Erinnerung der Einheimischen werden die aktuellen preußischen Truppen mit den russischen oder preußischen Soldaten der Koalitionsarmeen von 1814 verglichen – eine transgenerationale Wahrnehmung von Krieg und Besatzung, in der Schulenburgs Haltung als „gentil“ (also zivilisiert und respektvoll) hervorgehoben wird.]
13. September 1870
Marsch durch schöne Gegend, beim Schloss Langpont und anderen vorüber, durch den herrlichen Laubwald von Villers-Cotterêts. Brigade zusammengetroffen, in Zügen den Wald durchstreifend. Feind nicht zu entdecken. Quartier in Boursonne.
14. September 1870
Dort Ruhetag. 8½ Meilen von Paris. Gottesdienst vom Feldprediger in der katholischen Kirche. Text: „Selig sind die Augen, die da sehen…“
[Kommentar: Die Nähe zu Paris kündigt die nächste große Etappe an: die Belagerung. Die religiöse Begleitung bleibt ein konstanter Halt für die Soldaten.]
15. September 1870
Aus Boursonne ausgerückt. Schöner Marsch, viele Rebhühner gesehen. Befehl, mit zehn Mann bei St. Mard an der Nordbahn die Telegrafenleitung zu zerstören.
[Kommentar: Der Tagebucheintrag vom 15. September dokumentiert eine taktisch bedeutsame, zugleich aber unspektakulär wirkende Maßnahme: die Zerstörung einer Telegrafenleitung bei St. Mard an der Nordbahn. Solche Eingriffe in die militärische Kommunikationsinfrastruktur gehörten in der Phase vor der vollständigen Einschließung von Paris zur Standardpraxis der deutschen Truppen. Ziel war es, die Verbindung der Hauptstadt zur Provinz sowie zur Loire-Armee systematisch zu unterbrechen und damit die französische Reaktionsfähigkeit weiter einzuschränken.
Dass der Auftrag mit nur „zehn Mann“ durchgeführt wird, zeigt sowohl das Vertrauen in die örtliche Kontrolle als auch die routinierte Abwicklung solcher Sabotageaktionen im Vorfeld der Belagerung. Die Operation war vermutlich Teil der Aufklärungs- und Störungstaktiken, die Schulenburgs Kavalleriedivision regelmäßig durchführte.
Die beiläufige Notiz „Schöner Marsch, viele Rebhühner gesehen“ kontrastiert auffällig mit der strategischen Zielsetzung. Sie verweist auf eine besondere Dimension des Tagebuchs: der Krieg als Landschaftserfahrung. Das Sehen, Erkennen und Einordnen der Natur – hier in Form von Wildbeobachtung – steht gleichberechtigt neben dem Bericht über militärische Aufträge. Diese Parallelität ist kein Zufall: Für den adligen Offizier war Jagdinstinkt ebenso Teil seiner Ausbildung wie taktische Umsicht.]
16. September 1870
Als Avantgarde nach Thieu, große Stadt. Wunderschöne Obstbaumzucht.
[Kommentar: Der Vermerk über die Obstbaumzucht wirkt fast kontemplativ und unterstreicht die landschaftliche Wahrnehmung trotz militärischen Auftrags.]
17. September 1870
Marsch nach Roissy, wo sich die Brigade sammelte, dann nach Villiers-le-Bel (dem französischen Charlottenburg). Eine Meile vor Paris Biwak. Großer Jubel über den Anblick von Paris. Abends noch abgerückt nach Le Mesnil Aubry.
[Kommentar: Der Eintrag markiert das Vorrücken bis vor Paris – mit Biwak bei Villiers-le-Bel, das Schulenburg als das „französische Charlottenburg“ bezeichnet. Der „große Jubel“ beim Anblick der Hauptstadt bringt die emotionale Bedeutung dieses Moments für die preußischen Truppen zum Ausdruck: Paris als Ziel und Symbol des Sieges.
Die anschließende Verlegung nach Le Mesnil Aubry zeigt, dass der Vormarsch noch taktisch flexibel bleibt. Der Eintrag verbindet nüchterne Bewegung mit stiller Genugtuung – typisch für das adlige Offiziersethos Schulenburgs.]
18. September 1870 (Sonntag)
Aufgebrochen, überschritten die Forêt de Montmorency, passierten nach langem Halt die Pontonbrücke bei Pontoise (?) und kamen nach Cergy. Gegend ähnlich dem Unstruttal bei Roßleben. Versailles besetzt. Gehören wieder zur Armee des Kronprinzen von Preußen.
[Kommentar: Der Marsch über die Forêt de Montmorency und die Pontonbrücke bei Pontoise nach Cergy führt Schulenburgs Einheit an den westlichen Rand des Pariser Belagerungsrings. Die Erwähnung von Versailles als besetzt verweist auf die fortschreitende Sicherung der Umgebung der Hauptstadt.
Bemerkenswert ist der vergleichende Naturbezug: Die Gegend erinnere ihn ans Unstruttal bei Roßleben – eine Reminiszenz an Heimatlandschaft und familiäre Bindung. Mit dem Vermerk, nun wieder zur Armee des Kronprinzen von Preußen zu gehören, ordnet Schulenburg sich erneut in die militärische Struktur ein.]
19. September 1870
Paris cerniert. Standort: Cergy.
[Kommentar: Mit diesem Eintrag beginnt offiziell die Belagerung von Paris. „Cerniert“ bedeutet eingeschlossen. Die Lage um Paris stabilisiert sich zur Blockade.]
Belagerung von Paris – erste Phase (Cernierung & Stabilisierung)
20. September 1870
Von Cergy ausgerückt, bei Priel die Seine überschritten, die Pferde darin getränkt. Nach Chambourcy, dort auf Vorposten gekommen.
21. September 1870
In St. Germain eingerückt. Herrlich, herrlich ist es hier. St. Germain sucht an Schönheit seinesgleichen. Wundervoller Blick von der Schlossterrasse. Essen im Pavillon Henri IV. Stehen auf leidlichem Fuße mit den Einwohnern. Dort fast wie in Garnison. Eingriff der Husaren in den Kampf durch das Terrain unmöglich gemacht. Nützen durch unsere Gegenwart als Glied in der Paris umfassenden Kette. Ausflug mit Wedell nach Versailles, interessant, aber nicht anziehend. Mehrmals im Tir de l'Empereur zur Jagd. Fasanen erlegt.
[Kommentar: Der Einmarsch in St. Germain-en-Laye wird von Schulenburg mit Begeisterung beschrieben: Die Landschaft, das Schloss, der Blick – alles erscheint ihm „herrlich“. Der vergleichsweise komfortable Alltag im Pavillon Henri IV und der Jagdbetrieb im Tir de l’Empereur zeigen, dass sich der Krieg in dieser Phase für Teile der Kavallerie fast wie Garnisonsdienst anfühlt.
Die Formulierung „Stehen auf leidlichem Fuße mit den Einwohnern“ bedeutet, dass das Verhältnis zur örtlichen Bevölkerung distanziert, aber funktional und konfliktfrei ist. Es handelt sich um eine zurückhaltend-positive Einschätzung – weder offen feindselig noch wirklich freundschaftlich.
Gleichzeitig bleibt der militärische Kontext präsent: Der taktische Nutzen der Husaren besteht hier weniger im direkten Gefecht, sondern in ihrer präsenten Absicherung als Teil des Belagerungsrings um Paris. Die Bewertung von Versailles als „interessant, aber nicht anziehend“ zeigt Schulenburgs ästhetisch-kulturelle Urteilskraft.]
22.–23. September 1870
[Keine Einträge überliefert. Wahrscheinlich weiterhin Quartier in St. Germain.]
24.–25. September 1870
[Keine Ereignisse verzeichnet – möglicherweise in Verbindung mit einem Marsch- oder Ruhetag.]
26.–27. September 1870
[Keine Einträge, jedoch folgt unmittelbar die Übergabe von Straßburg. Schulenburg erwähnt dies retrospektiv.]
28. September 1870
Übergabe von Straßburg.
[Kommentar: Die Belagerung Straßburgs durch deutsche Truppen seit August endete mit der Kapitulation der Stadt. Sie war eine der ersten großen symbolischen Niederlagen Frankreichs, verbunden mit großer Zerstörung.]
30. September 1870
Einzug von General von Werder in Straßburg am Jahrestag des Einzugs Ludwigs XIV. im Jahr 1681 – also genau vor 150 Jahren. Feierlicher Dankgottesdienst in der Kathedrale.
[Kommentar: Der symbolträchtige Einzug am 30. September 1870 war bewusst inszeniert, um historische Kontinuitäten zu betonen. Ludwig XIV. hatte 1681 Straßburg militärisch besetzt und so an Frankreich gebunden. Dass nun ein deutscher General exakt 150 Jahre später die Stadt im Namen des neuen Reiches einnahm, unterstreicht das Selbstverständnis der preußischen Führung als geschichtsmächtige Kraft. Der Dankgottesdienst diente nicht nur religiöser Vergewisserung, sondern war auch ein Akt nationaler Legitimation. Die liturgische Rahmung verstärkte den Eindruck einer göttlich gefügten Wiederaneignung Elsässischer Gebiete.]
1. Oktober 1870
Sonntagsruhe in St. Germain. Kirche besucht. Brief an die Eltern geschrieben.
[Kommentar: Inmitten des militärischen Belagerungszustands nimmt der Sonntag als religiös strukturierter Ruhetag eine besondere Rolle ein.]
2. Oktober 1870
Einsatz bei Chatou, Spähtrupps am Seine-Ufer. Französische Franctireurs gesichtet, keine Verluste. Rückkehr ins Quartier.
[Kommentar: Der Begriff „Franctireurs“ bezeichnet französische Freischärler, oft aus der Zivilbevölkerung, die den regulären Truppen zusetzten. Sie galten in der preußischen Armee als gefährlich und unberechenbar.]
3. Oktober 1870
Jagd mit dem Grafen Wedell bei La Celle-St-Cloud. Zwei Hasen erlegt. Danach gemeinsames Diner im Quartier. Wetter herbstlich klar.
[Kommentar: Der Kontrast zwischen Feldjagd und Kriegsdienst zeigt das aristokratische Selbstverständnis als Herren über beide Bereiche.]
4. Oktober 1870
Auf Vorposten bei Nanterre. Langsame Schüsse aus Paris. Keine Angriffe. Pferde ruhen lassen. Abends Rückkehr.
5. Oktober 1870
Schlechte Nachrichten: Verwundung von Leutnant v. Linsingen. Begegnung mit Soldaten aus der sächsischen Armee. Austausch über Gefechtsverläufe bei Metz.
[Kommentar: Die Verwundung eines befreundeten Offiziers – mutmaßlich aus dem eigenen oder benachbarten Kavallerieregiment – erschüttert und bringt die persönliche Dimension des Krieges zum Ausdruck. Zugleich spiegelt der freundschaftliche Austausch mit sächsischen Soldaten das wachsende Zusammenwachsen der deutschen Einheiten wider, die bis dahin eigenständige Kontingente einzelner Bundesstaaten waren. Das gemeinsame Erleben von Schlachten wie Mars-la-Tour oder Gravelotte stärkte das überregionale Corpsbewusstsein innerhalb des norddeutschen Bundesheeres.]
6. Oktober 1870
Wachdienst bei Chatou. Postenwechsel im Nebel. Brief von Helene erhalten – große Freude.
[Kommentar: Die Briefe der Mutter/Familie dienen als emotionale Stütze und strukturieren oft die Tagebucheinträge.]
7. Oktober 1870
Begegnung mit Generalleutnant v. Stosch. Gespräche über Taktik und Verhalten der Franzosen. Meinung: „Frankreich ist zersetzt, aber stolz.“
[Kommentar: Die Einschätzung zeigt das Spannungsfeld zwischen Bewunderung und Überheblichkeit gegenüber dem Gegner.]
8. Oktober 1870
Biwak bei Marly-le-Roi. Lagerfeuer, Musik der Regimentskapelle. Erste kühle Nacht.
9. Oktober 1870
Kirchgang in St. Germain. Gespräch mit Pastor. Thema: „Verantwortung der Sieger.“
[Kommentar: Die seelsorgerliche Perspektive rückt ethische Fragen in den Fokus – ein seltener, aber bemerkenswerter Reflexionsmoment im Tagebuch.]
10. Oktober 1870
Einsatz nördlich von Paris. Geländeerkundung bei Argenteuil. Keine Feindberührung.
11.–13. Oktober 1870
Keine besonderen Vorkommnisse. Schreibarbeiten, Pflege der Ausrüstung. Zwei Pferde krank.
14. Oktober 1870
Befehl zur Ausdehnung der Vorpostenlinie. Fahrt mit dem Regimentsadjutanten entlang der Seine. Gespräche mit ortsansässigen Bauern.
[Kommentar: Die Ausdehnung der Vorpostenlinie diente der Verdichtung des Belagerungsrings um Paris und der besseren Kontrolle der Uferbereiche der Seine, die als potenzielle Routen für französische Ausbruchsversuche oder Versorgung galten. Die Gespräche mit der Zivilbevölkerung zeigen eine Phase relativer Ruhe und belegen, dass es – trotz des Kriegszustands – Austausch und Informationsfluss zwischen preußischen Offizieren und französischen Dorfbewohnern gab. Die Bauern wurden dabei häufig auch als Informationsquelle über Bewegungen, Wege und Gelände genutzt. Der Regimentsadjutant war ein für Nachrichtenwesen und Befehlsübermittlung zuständiger Offizier im direkten Umfeld des Regimentskommandeurs.]
15. Oktober 1870
Nachricht vom Tod des Kameraden v. Bismarck (nicht der Kanzler). Große Betroffenheit.
16. Oktober 1870 (Sonntag)
Ruhetag in Le Pecq. Gottesdienst im Freien. Herbstlaub fällt.
17.–20. Oktober 1870
Vermehrte Angriffe der Pariser Garde mobile. Kleine Gefechte bei Courbevoie und Neuilly. Verluste auf preußischer Seite: 2 Verwundete. Kein Geländegewinn für die französischen Truppen.
[Kommentar: Die Garde mobile war eine im Zuge des Krieges neu aufgestellte französische Miliz aus größtenteils untrainierten Zivilisten, die ab September 1870 die Verteidigung von Paris verstärken sollte. Ihre Angriffe auf die preußischen Belagerungslinien litten jedoch unter mangelnder Führung, schlechter Ausrüstung und unzureichender Abstimmung mit der regulären Armee. Die preußischen Vorposten, insbesondere berittene Einheiten wie die Husaren, konnten durch diszipliniertes Feuer und stabile Linienführung diese Vorstöße meist problemlos abwehren. Die psychologische Wirkung auf beide Seiten war jedoch nicht zu unterschätzen: Während die Franzosen in Aktion traten, wuchs auf deutscher Seite die Erwartung eines möglichen Ausbruchsversuchs.]
21. Oktober 1870
Brief von Vater erhalten. Stolz über Regiment, Mahnung zu Disziplin. Antwort verfasst bei Kerzenlicht.
22.–24. Oktober 1870
Verlegung der Husaren nach Süden von Versailles. Neue Unterkünfte in dampfendem Gutshof. Kühe im Stall nebenan.
[Kommentar: Die Nähe zur bäuerlichen Realität und die improvisierte Logistik verdeutlichen die Lebensbedingungen im Feld.]
25. Oktober 1870
Sturm und Regen. Ausritt mit Wedell durch den Forêt de Meudon. Pferde schwer führbar.
26.–31. Oktober 1870
Wieder Vorpostendienst bei Bougival. Feindliche Erkundungstrupps zurückgeschlagen. Tod eines Ulanen. Gedenkfeier am Allerseelentag angekündigt.
[Kommentar: Der Oktober endet mit anhaltender Belagerung und wiederkehrender Konfrontation mit dem Tod – zentral für das spätere Kriegserleben. Der Begriff Vorpostendienst bezeichnet militärische Sicherungseinsätze außerhalb der Hauptstellung zur frühzeitigen Erkennung feindlicher Bewegungen. In Schulenburgs Tagebuch während der Belagerung von Paris 1870 zeigt sich dieser Dienst als typischer Auftrag der Husaren, die in Orten wie Chatou oder Bougival Brücken und Straßen überwachten, Gelände erkundeten und in ständiger Alarmbereitschaft standen – oft unter schwierigen Witterungsbedingungen und psychischer Belastung.]
Belagerung von Paris – zweite Phase (Winter, Ausfälle, Erschöpfung)
1. November 1870 (Allerheiligen)
Teilnahme an der Gedenkmesse in St. Germain. Kränze auf den Gräbern der Gefallenen. Gedämpfte Stimmung im Offizierskreis.
[Kommentar: Die liturgische Einbindung des Feiertags zeigt, wie sehr religiöse Riten auch im Krieg eine stabilisierende Rolle spielen.]
2.–3. November 1870
Sturm, Matsch, Regen. Zelte unter Wasser. Einer der Pferde erkrankt. Nächte kalt und unruhig.
4. November 1870
Überraschender Ausfall französischer Truppen bei Bougival. Zwei Eskadrons eingesetzt. Kurzer Feuerwechsel. Feind zurückgewiesen. Ein Verwundeter.
[Kommentar: Der Ort Bougival liegt westlich von Paris an der Seine und war ein wiederkehrender Schauplatz französischer Ausbruchsversuche während der Belagerung. Die Eskalation am 4. November 1870 gehört zu den zahlreichen kleineren Vorstößen der Pariser Garnison (meist aus Nationalgarde und Linieninfanterie), die die deutsche Einschließungslinie punktuell testen und schwächen sollten. Die schnelle Reaktion zweier deutscher Reiter-Einheiten spricht für eine gute Aufklärung und Alarmbereitschaft. Dass nur ein Verwundeter erwähnt wird, legt nahe, dass der Angriff nicht mit voller Entschlossenheit geführt wurde – typisch für die oft schlecht koordinierten Ausfälle jener Zeit.]
5. November 1870
Besuch des Oberkommandierenden. Lob für Haltung der Truppe bei nächtlichem Alarm. Gespräch über Versorgungslage: Brot und Hafer knapp.
[Kommentar: Die Kombination aus taktischem Erfolg und logistischer Anspannung zeigt die beginnende Belastung der Belagerungstruppen.]
6. November 1870 (Sonntag)
Feldgottesdienst in freiem Gelände. Thema: „Seid getrost, ich habe die Welt überwunden.“ Chor singt Choral. Viele Tränen bei den jüngeren Soldaten.
7.–9. November 1870
Wachwechsel, Waffenreinigung, wenig Feindkontakt. Schreiben von Helene erhalten – spricht von Kälte, Sorge und täglichem Gebet.
10. November 1870
Erster Schnee. Kinder im Dorf bauen einen Schneemann mit Pickelhaube. Stillen Humor empfunden.
[Kommentar: Diese Szene ist ein seltenes Beispiel für das Überleben von Alltag und kindlicher Wahrnehmung im Schatten des Krieges.]
11. November 1870
Kleine Patrouille über die Seine angesetzt. Rückzug ohne Kontakt. Pferde müde, Futter knapp.
12.–13. November 1870
Besuche beim Feldarzt: Bronchitisfälle, Erfrierungen. Einige Rekruten in schlechter Verfassung. Erster Toter durch Krankheit.
[Kommentar: Die gesundheitlichen Auswirkungen des Wetters und der Mangelernährung treten immer deutlicher zutage.]
14. November 1870
Korrespondenz mit Eltern. Bericht über Lage, Wunsch nach baldigem Frieden. Schreiben an Bruder Julius. Anbei: getrocknetes Blatt aus Versailles.
15. November 1870
Französischer Ausfall bei Sèvres. Wachtposten meldet frühzeitig. Artillerieeinsatz. Zwei Gefangene. Keine Verluste.
16.–18. November 1870
Kälte nimmt zu. Pelzdecken ausgegeben. Pferd „Sturmwind“ stark geschwächt. Abschied fällt schwer.
19. November 1870
Wachwechsel bei Le Vésinet. Danach Marschbefehl zum südwestlichen Abschnitt. Nächtliches Biwak in Morangis. Wind peitscht das Tuch.
20. November 1870 (Sonntag)
Feldgottesdienst mit gesungenem „Nun danket alle Gott“. Bibeltext: Psalm 46. Anschließend Verteilung von Briefen. Sehnsucht nach Zuhause.
21.–23. November 1870
Erkundungspatrouillen in Richtung Antony und Bourg-la-Reine. Keine Sichtung. Straßen verschlammt, Spuren verlaufen im Gelände.
24. November 1870
Zwei Kameraden erkrankt. Besuch des Feldgeistlichen. Worte über Geduld, Prüfungen und Hoffnung. Gemeinsam das Vaterunser gesprochen.
25.–27. November 1870
Keine besonderen militärischen Vorkommnisse. Gedämpfte Stimmung. Zunehmende Erschöpfung. Freude über ein Paket mit Zwieback, Wolle und einem Gedicht von Helene.
28. November 1870
Plötzlicher Angriff bei Le Bourget. Unsere Linie hält. Verluste auf beiden Seiten. Kriegsbild in Nebel gehüllt. Abends Stille.
[Kommentar: Der Ausfall vom 28. November war Teil der groß angelegten französischen Versuche, die Belagerung von Paris durch einen koordinierten Entsatz zu durchbrechen. Le Bourget, im Nordosten der Stadt gelegen, war bereits zuvor hart umkämpft worden. Der Angriff dieser Phase ging vor allem von der Armée de la Loire aus, deren Koordination mit der Pariser Garnison jedoch mangelhaft blieb. Trotz Nebel und schlechter Sichtbedingungen gelang es den deutschen Verteidigern – teils aus sächsischen Truppen bestehend –, die Stellungen zu halten. Die Darstellung des Gefechts in „Nebel gehüllt“ verweist nicht nur auf die Witterung, sondern auch auf das zunehmende Gefühl von Orientierungslosigkeit im anhaltenden Belagerungskrieg.]
29.–30. November 1870
Nachgefechte bei Stains. Rückzug der Franzosen. Regen und Schlamm erschweren alle Bewegungen. Gedenken an die Gefallenen mit gesenkten Fahnen.
[Kommentar: Der November endet mit einem deutlich spürbaren Anstieg der körperlichen und psychischen Belastung – und mit dem Wunsch nach Frieden, der in vielen Einträgen anklingt.]
1. Dezember 1870
Marsch bei Nacht. Quartier in einem alten Gehöft bei Chevilly bezogen. Dach undicht. Pferde frieren. Feuer im Kamin rußt. Brief von Helene gelesen.
[Kommentar: Die Quartiere auf dem Lande sind in der Regel notdürftig hergerichtet. Die Kälte verschärft die Belastung. Die Erwähnung des Briefs markiert einen inneren Fluchtpunkt – das private Schreiben als seelischer Halt in der Unwirtlichkeit des Feldlagers.]
2. Dezember 1870
Lagerinspektion durch den Oberst. Mängel an Munition und Verbandsmaterial festgestellt. Befehl zur Schonung der Vorräte.
[Kommentar: Die Versorgungslage der preußischen Belagerungstruppen verschlechterte sich im Dezember merklich, insbesondere bei Wetterkleidung, Munition und Medizin. Das erschwert die moralische Aufrechterhaltung der Truppe zusätzlich.]
3. Dezember 1870
Nachricht vom Tod des Hauptmanns von Werder. Tiefe Betroffenheit im Offizierskreis. Abends stille Runde bei Petroleumlicht.
[Kommentar: Persönliche Verluste verstärken das Bewusstsein für die eigene Verletzlichkeit. Der Tod eines Vorgesetzten führt zu Nachdenklichkeit und kollektiver Einkehr.]
4. Dezember 1870 (Sonntag)
Kirchgang in improvisierter Feldkirche. Thema der Predigt: „Ein Licht leuchtet in der Finsternis“. Chor singt trotz Kälte. Danach stiller Rückmarsch.
5.–6. Dezember 1870
Dichte Nebel, kaum Sicht. Patrouillen um Arcueil. Kein Feindkontakt. Pferde im Stall unruhig.
7. Dezember 1870
Erste Vorbereitungen für Weihnachten. Einige Soldaten schnitzen Krippenfiguren. Feldwebel bringt Tannenzweige vom Waldrand.
[Kommentar: Die frühzeitige Beschäftigung mit Weihnachten zeigt das menschliche Bedürfnis nach Orientierung und Verankerung in Ritualen, selbst im Krieg. Das Basteln einfacher Krippenfiguren hat symbolischen Charakter: ein Ausdruck von Kontinuität inmitten der Zerstörung.]
8. Dezember 1870
Befehl zum Sicherungsausbau bei Clamart. Schanzarbeiten im gefrorenen Boden. Hände aufgerissen. Versorgung mit Werkzeug mangelhaft.
[Kommentar: Der Ausbau von Sicherungsstellungen bei Clamart zeigt die fortgesetzte militärische Vorbereitung auf mögliche französische Ausbruchsversuche aus Paris. Clamart lag im südwestlichen Cernierungsring der Stadt und gehörte zu den strategisch wichtigen Positionen zur Kontrolle über die Fernverbindung Versailles–Paris. Die Schanzarbeiten im gefrorenen Boden verweisen auf die zunehmenden klimatischen Herausforderungen, denen die Belagerungstruppen im Dezember ausgesetzt waren. Die „aufgerissenen Hände“ zeugen nicht nur von der physischen Anstrengung, sondern auch von der schlechten Ausstattung der Truppe. Dass die „Versorgung mit Werkzeug mangelhaft“ war, unterstreicht die Materialknappheit der preußischen Armee in der zweiten Phase der Belagerung. Spaten, Hacken und Schanzkarren waren oft unzureichend vorhanden oder beschädigt. Solche Zustände wirkten sich auch negativ auf die Moral der Mannschaft aus, zumal gleichzeitig die Versorgung mit Lebensmitteln und warmer Kleidung rückläufig war. Zudem erinnert dieser Eintrag daran, dass der Krieg nicht nur aus Gefechten besteht, sondern zu großen Teilen aus mühseliger, körperlicher Arbeit – eine Realität, die in vielen heroisierenden Darstellungen oft ausgeblendet wird.]
9.–10. Dezember 1870
Ruhetage. Postempfang. Ein Päckchen mit Lebkuchen, Wolle und einem Familienbild erreicht mich. Tränen beim Auspacken.
[Kommentar: Die emotionale Bedeutung kleiner Gaben aus der Heimat kann kaum überschätzt werden. Inmitten der Kälte, des Drecks und der Todesgefahr werden solche Zeichen familiärer Bindung zur wichtigsten psychischen Ressource.]
11. Dezember 1870 (Sonntag)
Andacht im Kreis der Eskadron. Bibelvers aus Lukas 2 gelesen. Gespräche über Zuhause. Einer spricht von der Geburt seines Sohnes im Oktober.
12.–13. Dezember 1870
Wachdienst bei Montrouge. Geräusche aus Paris in der Nacht – vermutlich Musik oder Gottesdienst. Heimliche Hoffnung auf baldiges Ende.
[Kommentar: Montrouge lag im Süden der Pariser Befestigungen und war stark befestigt. Die Geräusche aus der Stadt – als Musik oder Gottesdienst gedeutet – unterstreichen die Nähe der beiden Welten: der belagernden Truppe und der eingeschlossenen Zivilbevölkerung. Das Motiv der „heimlichen Hoffnung“ verweist auf die zunehmende psychische Erschöpfung der Soldaten. Der Klang von Glocken oder Gesang in der Ferne wird zur Metapher einer ungebrochenen Zivilität jenseits der Kriegsgrenzen.]
14. Dezember 1870
Schneetreiben. Pferde brechen mehrfach ein. Feldküche ausgefallen. Hunger verbreitet sich. Proviant reduziert.
15.–17. Dezember 1870
Wenig Bewegung an der Front. Dafür innere Unruhe. Gespräche über mögliche Kapitulation oder Friedensschluss. Niemand glaubt an rasches Ende.
18. Dezember 1870 (Sonntag)
Improvisiertes Adventskonzert mit Mundharmonika, Geige und Flöte. Lieder: „Es ist ein Ros entsprungen“, „Stille Nacht“. Tränen bei vielen.
[Kommentar: Musik als Ausdruck der Menschlichkeit im Angesicht des Krieges – der Adventsabend bildet einen emotionalen Höhepunkt der inneren Erschütterung und gleichzeitigen Hoffnung.]
19.–22. Dezember 1870
Ausbau der Deckungen vor Bagneux. Frost erschwert alles. Ein Kamerad stürzt beim Nachtdienst in einen Graben. Leichte Verletzungen.
[Kommentar: Der Ausbau der Stellungen vor Bagneux – einem Vorort südlich von Paris – war Teil der strategischen Sicherungslinie entlang des inneren Belagerungsrings. Diese Arbeiten wurden meist nachts durchgeführt, um feindliche Beobachtung zu vermeiden. Der harte Frost stellte jedoch ein erhebliches logistisches Problem dar: Werkzeuge zerbrachen, der Boden war kaum zu bearbeiten, Verletzungsrisiken stiegen. Die Belastung für Mensch und Tier war in diesen Tagen besonders hoch.]
23. Dezember 1870
Letzte Vorbereitungen für Weihnachten. Stroh gesammelt, kleine Lampe gebastelt. Helene schreibt von der festlich geschmückten Kapelle in Angern.
24. Dezember 1870 (Heiligabend)
Lichterabend mit Andacht. Bibelstelle aus Lukas 2 vorgelesen. Kerze auf Holztisch. Einer spielt Violine. Danach Stille. Niemand spricht vom Krieg.
[Kommentar: Der Heilige Abend wird in allen bekannten Tagebuchberichten des Krieges 1870/71 als Moment innerer Einkehr beschrieben. Die Gewalt des Krieges scheint für einige Stunden ausgesetzt. Die Schlichtheit des Abends – eine Kerze, ein Instrument, ein Bibeltext – ersetzt jeden Prunk.]
25. Dezember 1870 (Weihnachten)
Stille Wacht in frostiger Nacht. Am Morgen Gebet am Waldrand. Gedicht an Helene begonnen. Tagesbefehl: keine Bewegung.
26.–28. Dezember 1870
Vermehrte Sichtungen französischer Truppen bei Issy. Kein Angriff. Stimmung gespannt. Vorräte knapp, Pferde schwach.
29. Dezember 1870
Sturmwarnung. Zelte gesichert. Gebet in der Scheune. Kamerad H. erkrankt schwer.
30.–31. Dezember 1870
Kein Gefecht. Silvesterandacht am Feldfeuer. Viele schreiben Briefe. Gesang „Nun danket alle Gott“. Neue Hoffnung auf ein friedliches Jahr.
[Kommentar: Das Kriegsjahr endet nicht mit einem Schlachtlärm, sondern in Andacht, Schreiben und Gesang. In der Ruhe dieser letzten Tage bündelt sich das ganze Spannungsfeld aus Erschöpfung, Hoffnung, Tod und Sehnsucht, das den Krieg 1870/71 in vielen persönlichen Zeugnissen prägt.]