Schulenburg Familie in Angern
Das Geschlecht von der Schulenburg zählt zu den älteren Adelsfamilien Norddeutschlands und ist seit dem 13. Jahrhundert urkundlich belegt

Die Tagebucheintragungen des Jahres 1871 dokumentieren eindrucksvoll den Übergang vom Krieg zur Friedenszeit. Zu Beginn steht Friedrich Wilhelm Christoph Daniel von der Schulenburg („Fritz“) weiterhin im Feld, beteiligt an den letzten militärischen Operationen um Paris und später in der Normandie. Die Einträge zeigen eine Mischung aus militärischer Routine, Marschbewegungen und logistischen Aufgaben – besonders als Quartiermacher organisiert er Unterkünfte für die Truppe.

 Auffällig sind die zahlreichen Begegnungen mit der französischen Bevölkerung, die oft höflich oder gar freundlich ausfallen. Der Kontakt zu adligen Gastgebern (etwa der Familie de Segonzac) führt zu gegenseitiger Wertschätzung, während Landschaftsbeschreibungen, Kirchenbesuche und Ausflüge auf eine Phase zunehmender Entspannung hinweisen.

Zentrale politische Ereignisse wie die Unterzeichnung des Friedens (10. Mai) oder der Einzug der Truppen in Berlin (16. Juni) werden mit feierlichen Worten festgehalten. Persönliche Wendepunkte – etwa der Erhalt des Eisernen Kreuzes, das Wiedersehen mit Familie und Freunden, oder der Eintritt in den Justizdienst in Frankfurt a. d. O. – markieren Fritz’ Rückkehr in das zivile Leben. Die Einträge verbinden Patriotismus, christliche Frömmigkeit und adelige Selbstvergewisserung mit der Reflexion über das Erlebte. 1871 erscheint so als Jahr der Wandlung und Rückkehr, das die biografische wie politische Zäsur nach dem Krieg deutlich werden lässt.

Die wichtigsten Stationen von Fritz im Krieg von 1870/1871 werden auf dieser Karte visualisiert

Letzte Kriegsphase und Pariser Belagerungsring

1. Januar 1871
Früh morgens den Marsch angetreten mit zwei Wagen und vier Mann. Traf in Bréteuil Haugwitz, ging bis Sejeteuil, woselbst gutes Unterkommen im Schloss des Mr. de Lassalle.
NB: Nach Lagny, dort Sachen in Empfang zu nehmen.

[Kommentar: Der neue Kriegsabschnitt beginnt mit logistischen Aufgaben. Schlossquartiere wie das des Mr. de Lassalle zeigen, wie oft französische Landsitze als Offiziersunterkünfte dienten.]

2. Januar 1871
Marsch über St. Cyr nach Versailles. Dort viele Bekannte getroffen, auch Ernst Planitz im schönen Park auf dem Bassin Schlittschuh laufen sehen. Im Reservoir die Fürsten speisend getroffen. Als Moltke fortging, erhob sich grüßend die ganze Versammlung. Erhielt Grüße aus Châteaux von Papa und erfuhr, dass er das Eiserne Kreuz erhalten.

[Kommentar: Der Aufenthalt in Versailles bietet Einblick in höfisch-militärische Begegnungen. Die Auszeichnung des Vaters mit dem Eisernen Kreuz verweist auf seine Verdienste im Feldzug.]

3. Januar 1871
Höchst interessanter Marsch durch Vorposten auf der Südfront von Paris; weiter auf der Straße nach Chantenay, wo ein Geschützpark aufgefahren war, nach Villeneuve le Roi, wo die 38er liegen. Übers Eis der Seine nach St. Georges, endlich bis La Grange, Schloss des Grafen de Failly, von Maurice de Saxe erbaut. Ostfront von Paris stark beschossen.

[Kommentar: Dieser Eintrag schildert einen weitläufigen Marsch durch die südliche und südöstliche Peripherie von Paris, mit mehreren taktisch und historisch bedeutsamen Stationen:

  • Die Südfront von Paris war im Januar 1871 stark umkämpft. Der Durchmarsch durch die Vorposten verdeutlicht, dass sich der Autor im unmittelbaren Frontbereich bewegte.
  • Chantenay ist vermutlich ein Lesefehler oder eine undeutliche Schreibweise – gemeint ist mit hoher Wahrscheinlichkeit Choisy-le-Roi oder ein angrenzender Ort an der Seine. Dort war ein Geschützpark aufgefahren – also ein Sammelplatz für Feldgeschütze, vermutlich zur Versorgung oder Vorbereitung koordinierter Angriffe auf die Forts an der Südostflanke (Issy, Ivry, Bicêtre).
  • In Villeneuve-le-Roi war das 38. Infanterieregiment stationiert („die 38er“). Dieses gehörte wahrscheinlich zur III. Armee unter Friedrich Karl, die den Süd- und Südostsektor der Belagerung abdeckte.
  • Die Überquerung der Seine „übers Eis“ ist ein spektakuläres Detail: Der Winter 1870/71 war außerordentlich streng, und die zugefrorene Seine ermöglichte teils provisorische Bewegungen ohne Brücken – ein logistisches und sicherheitsrelevantes Wagnis.
  • Das Ziel „St. Georges“ ist nicht eindeutig zu lokalisieren – es könnte sich um einen Ortsteil oder eine Domäne handeln; wahrscheinlicher ist aber, dass es ein Zwischenpunkt vor dem Quartier in La Grange war.
  • Das Schloss „La Grange“ des Grafen de Failly, das auf Maurice de Saxe zurückgeht, verweist auf einen historischen Bezug: Maurice de Saxe (1696–1750) war unehelicher Sohn Augusts des Starken und berühmter Marschall von Frankreich. Dass sein Schloss heute im Besitz des Generals oder Grafen de Failly war (möglicherweise Pierre Félix Charles de Failly, ein bekannter französischer Divisionsgeneral), macht den Aufenthalt doppelt symbolisch: als Station auf dem Marsch und als geschichtsträchtiger Ort.
  • Die abschließende Bemerkung, dass die Ostfront von Paris stark beschossen wurde, zeigt, dass der Ring um die Hauptstadt inzwischen fast vollständig geschlossen war.]

4. Januar 1871 (Sonntag)
In Lagny eingetroffen, um dort einen großen Transport Stiefel in Empfang zu nehmen. Marsch durch schöne Waldungen, dem Prince de Wagram und Rothschild gehörig. Begegnung mit kolossalen Kolonnenzügen. Bei einem Kolonnenzug Dietrich Schulenburg erkannt und gesprochen.

[Kommentar: Die Besitzverhältnisse der durchquerten Wälder (Wagram, Rothschild) belegen, wie eng der Krieg mit französischem Großgrundbesitz verwoben war. Die Begegnung mit Dietrich Schulenburg verweist auf die familiäre Verbreitung des Adels im Offizierskorps.]

5. Januar 1871
Beschießung des Forts Issy bei Paris.

[Kommentar: Das Fort d’Issy war Teil des äußeren Festungsgürtels von Paris, der ab den 1840er Jahren unter Adolphe Thiers errichtet worden war. Es lag im Südwesten der Stadt, unweit von Vanves und dem heutigen Parc Georges Brassens. Während der Belagerung von Paris (September 1870 bis Januar 1871) war Fort Issy ein strategisch bedeutender Punkt zur Sicherung der Südfront. Die Beschießung am 5. Januar 1871 markiert den Beginn einer systematischen Offensive gegen die äußeren Forts im Rahmen der letzten Phase der Belagerung. Ziel war es, durch massiven Artilleriebeschuss die Verteidigung zu schwächen und den Druck auf Paris vor dem endgültigen Waffenstillstand zu erhöhen. Dass dieser Vorgang im Tagebuch knapp erwähnt wird, ohne nähere Ausführung, zeigt, wie alltäglich selbst massiver Artilleriebeschuss im unmittelbaren Umfeld des Autors geworden war. Zugleich lässt der Verzicht auf Kommentierung erahnen, dass die psychische Belastung des Kriegsgeschehens zunehmend verdrängt oder routinisiert wurde.]

6. Januar 1871 (Epiphanias)
[kein Inhalt überliefert]

7. Januar 1871
Immer noch in Lagny, ohne den Stiefeln auf die Spur gekommen zu sein. Beschießung der Pariser Forts. Abends erfahren, dass die Sendung vielleicht in Mitry sei – also dahin aufgebrochen. Nichts vorgefunden. Sehr gutes Quartier zur Nacht beim Maire.

[Kommentar: Wieder zeigt sich der Vorrang der logistischen Organisation – die Verteilung von Ausrüstung war ebenso kriegsentscheidend wie Gefechte.]

8. Januar 1871
Auf sehr glatten Wegen nach Gonesse. Halt in Mesnil Amelot, Frühstück mit Kameraden des Kaiser-Franz-Regiments. Weiter nach Rossy, dort C. Stolberg und Asseburg getroffen, von ihnen begleitet nach Gonesse, wo sich glücklich auf dem Bahnhof die Stiefel fanden. Noch zurück nach Mitry zur Abendgesellschaft.

[Kommentar: Dieser Eintrag schildert einen typischen Tag zwischen logistischer Pflicht, Kameradschaft und gesellschaftlichem Kontakt im Umfeld der Belagerung von Paris:

  • Mesnil Amelot liegt nordöstlich von Paris nahe dem heutigen Flughafen Charles de Gaulle. Dort traf der Verfasser auf Kameraden des Kaiser-Franz-Regiments (wahrscheinlich das österreichisch benannte preußische 2. Garde-Ulanen-Regiment „Kaiser Franz“). Das Frühstück mit ihnen zeigt die vertraute Verbindung unter Kavalleristen.
  • In Gonesse (etwa 16 km nordöstlich von Paris) fand sich endlich der zuvor gesuchte Stiefeltransport – ein logistischer Erfolg nach mehreren Tagen Suche. Die Stiefel standen auf dem Bahnhof, was eine Verbindung zur Bahnlinie belegt – wohl zur Versorgungslinie der deutschen Truppen.
  • Die Rückkehr nach Mitry (Mitry-Mory) zur Abendgesellschaft zeigt, dass neben Pflicht auch Raum für gesellige Formen militärischer Geselligkeit blieb – besonders in Etappengebieten. Die Abendgesellschaft war vermutlich eine Offiziersrunde im Quartier.]

9. Januar 1871
Marsch nach Gonesse zum Aufladen der Sachen. Dort standen Wagen, die Manteuffel nach Versailles bringen sollten. Freundliche Begrüßung mit Graf Kanitz. Über Villiers le Bel nach Montmorency. Wegen großer Glätte ein Marsch mit Schwierigkeiten.

[Kommentar: Der häufige Wechsel zwischen Lagern und Transportpunkten demonstriert die hohe Mobilität der Etappentruppen.]

10. Januar 1871
Nur bis Sartrouville gekommen. Sehr freundliche Aufnahme bei von Gemmingen. Traf viele Bekannte von den 12-Husaren und auch Vetter Wilhelm Schulenburg sowie den kleinen Bodendorfer.

[Kommentar: Der Eintrag dokumentiert eine Etappenverzögerung auf dem Marsch, die jedoch durch persönliche Begegnungen und Gastfreundschaft abgefedert wurde.

  • Sartrouville liegt nordwestlich von Paris an der Seine und war im Januar 1871 ein rückwärtiges Quartier der Belagerungstruppen. Aufgrund von Glätte und winterlicher Bedingungen (vgl. Vortag) wurde der geplante Marsch dort unterbrochen.
  • Die „freundliche Aufnahme bei von Gemmingen“ verweist auf die verbreitete Praxis, adlige Familienmitglieder oder Bekannte als Gastgeber zu nutzen. Die Familie von Gemmingen war ein deutsches Adelsgeschlecht, das in verschiedenen Linien in Baden, Württemberg und darüber hinaus verbreitet war. Offen bleibt, ob hier ein Familienmitglied zufällig anwesend war oder ein französisches Quartier fälschlich als solches identifiziert wurde.
  • Die Erwähnung „Bekannte von den 12-Husaren“ zeigt die enge Kameradschaft innerhalb der preußischen Kavallerieeinheiten. Das 12. Husarenregiment (auch „Braunschweigisches“) war 1870/71 an verschiedenen Operationen beteiligt und könnte sich ebenfalls im rückwärtigen Bereich befunden haben.]

Rückwärtige Etappendienste und logistische Aufgaben

11. Januar 1871
Mit dem Kommando bis St. Germain. Frühstück mit Bekannten im Pavillon Henry IV. Fahrt nach Versailles zur Villa Les Ambruges. Das Regiment ist in Houdan. Fort Issy in Brand geschossen.

[Kommentar: Der Tag zeigt den Kontakt zur rückwärtigen Etappen- und Kommandozone der Belagerung von Paris.

  • St. Germain-en-Laye, ein historisch bedeutender Ort westlich von Paris, war während der Belagerung ein wichtiger Rückhalt für deutsche Offiziere. Der Pavillon Henri IV – das ehemalige Schloss – war nicht nur symbolischer Ort (Geburtsort von König Heinrich IV.), sondern diente auch als repräsentatives Offiziersquartier. Ein Frühstück dort verweist auf ein privilegiertes Umfeld.
  • Die Villa „Les Ambruges“ in Versailles war ein Quartier in Nähe des Generalstabs, möglicherweise im Bereich der Rue de l’Orangerie oder westlich des Schlosses. Ihre Nennung zeigt erneut die Nähe zur militärischen Führungsschicht.
  • Die Bemerkung „Regiment ist in Houdan“ signalisiert, dass Fritz’ eigenes Regiment nicht in unmittelbarer Nähe war, sondern weiter westlich stand – Houdan lag ca. 60 km von Paris entfernt und diente als Rückzugs- und Ruhelager.
  • Dass „Fort Issy in Brand geschossen“ sei, verweist auf die systematische Belagerungstaktik: Fort Issy gehörte zur südwestlichen Verteidigungslinie von Paris. Die Artillerie konzentrierte sich ab Anfang Januar auf dessen Zerstörung, um den Ring um Paris zu schließen.]

12. Januar 1871
Kalte Fahrt früh zurück von Versailles nach St. Germain. Marsch nach Nauphle le Mateau, wo aber „kein Mateau“. Traf Arnims und andere Bekannte.

[Kommentar: Der ironische Kommentar zum Ortsnamen („kein Mateau“) zeigt Momente von Galgenhumor im Marschalltag.]

13. Januar 1871
In Houdan angelangt, bei Wedell eingekehrt. Das Kommando gewährte manche Freude durch Wiedersehen mit vielen Bekannten. Um Paris ganz herum gekommen bei dieser Gelegenheit. Zehn Briefe vorgefunden, auch einer mit Beschreibung des Weihnachtsfestes in Angern und Gratulation zum Geburtstag. Auch ein Brief von Papa aus Orléans, der zweimaliges Wiedersehen mit Kurd erwähnt.

[Kommentar: Der Eintrag dokumentiert mehrere aufschlussreiche Details:

  • Das Ankommen in Houdan markiert einen Ruhepunkt nach umfassender Bewegung „um Paris ganz herum“. Fritz hatte damit eine vollständige Umrundung der belagerten Hauptstadt vollzogen – ein logistisch wie symbolisch bedeutsamer Schritt.
  • Die Freude über Zehn Briefe betont die zentrale Rolle der Feldpost für emotionale Stabilisierung, insbesondere die Nachricht aus Angern über das Weihnachtsfest stellt eine Verbindung zur Heimat her. Dies legt nahe, dass Edo Graf von der Schulenburg, der Vater, sich selbst im Kriegsgebiet in Frankreich aufhielt – Orléans war wenige Wochen zuvor von preußischen Truppen eingenommen worden (2. Dezember 1870), danach Etappen- und Versorgungshauptpunkt. Als Gesandter des Johanniterordens war Edo vermutlich mit humanitären, seelsorgerischen oder versorgungstechnischen Aufgaben betraut. Der Johanniterorden stellte zahlreiche Freiwillige, Sanitätsoffiziere und Feldgeistliche, insbesondere aus adligen Familien.]

14. Januar 1871
Nach starkem Marsch in Chartres angelangt, wieder im alten Quartier der Vorstadt Leves.

15. Januar 1871 (Sonntag)
In Chartres. Nach vielen Nebeltagen einmal wieder heiterer Sonnenschein. Überall aber noch weiße Schneedecke. Die Kälte sei ein guter Bundesgenosse gegen die Franzosen, die viel mehr darunter leiden als die Deutschen. Berlepsch noch hier, steht mehreren Lazaretten und Depots vor. Große Freude über die Siege der II. Armee über Chanzy.

[Kommentar: Dieser Eintrag kombiniert meteorologische, militärische und organisatorische Beobachtungen zu einem dichten Bild des Kriegsalltags in der Etappenstadt Chartres:

  • Die Aussage, „die Kälte sei ein guter Bundesgenosse“, ist typisch für preußische Kriegstagebücher: Sie betont körperliche Überlegenheit und Disziplin der deutschen Truppen gegenüber der schlechter vorbereiteten französischen Armee. In Wahrheit litten beide Seiten stark unter der Witterung, doch in der propagandistischen Sicht war der Winter ein taktischer Vorteil.
  • Die „Siege der II. Armee über Chanzy“ beziehen sich auf die militärischen Erfolge unter Kronprinz Friedrich (Oberbefehl über die II. Armee) gegen die Loire-Armee unter General Antoine Chanzy. Besonders entscheidend war die Schlacht bei Le Mans (10.–12. Januar 1871), bei der Chanzy entscheidend geschlagen wurde. Die Nachricht darüber verbreitete sich ab Mitte Januar und wurde in Chartres mit „großer Freude“ aufgenommen – ein Zeichen für die politische Bedeutung militärischer Erfolge.]

16. Januar 1871
Aus der Vorstadt Leves nach Chartres selbst umquartiert. Sehr gut untergebracht bei Mr. Garnier, imprimeur de la ville. Kolonnist – wie hier die meisten Leute.

[Kommentar: Mr. Garnier war Druckereibesitzer – ein angesehener Beruf in einer Stadt wie Chartres. „Kolonnist“ bezeichnet einen republikanisch gesinnten Bürger, eventuell aus dem französischen Bürgertum.]

Kaiserproklamation und Gefangenentransporte

17.–18. Januar 1871
König Wilhelm I. in Versailles zum deutschen Kaiser proklamiert. Mit einem Transport Gefangener auf den Wagen nach Lagny begriffen. NB. Am Morgen mit ihnen (etwa 1775 Mann, meist Mobiles, darunter 34 Offiziere) von Chartres ausgerückt und nach vieler Mühe (als Quartiermacher) in Auneau Unterkommen für sie gefunden.

[Kommentar: Die Proklamation Wilhelms I. zum deutschen Kaiser im Spiegelsaal von Versailles am 18. Januar 1871 ist das symbolträchtigste Ereignis des Krieges. Die gleichzeitige Tätigkeit als Quartiermacher für Gefangene zeigt die Parallelität von historischer Inszenierung und logistischer Kriegsrealität. Die Mobilen Garden (Mobiles) waren schlecht ausgebildete französische Truppen aus der Nationalgarde.]

19. Januar 1871
Sehr weiter Marsch bis Arpajon über Dourdan, durch den reizenden Park von Bruyères an einem Bergabhang, über den herüber die Kanonen von Versailles und Paris donnerartig herübertönten. Hier wurden die Gefangenen von der bayerischen Etappenmannschaft bewacht. — Schlacht und Sieg bei St. Quentin: Faidherbès Nordarmee gänzlich geschlagen.

[Kommentar: Die gleichzeitige Fernwirkung der Kanonade und Nachricht vom Sieg bei St. Quentin zeigt, wie strategische Informationen und sinnlich erfahrbarer Krieg miteinander verschmolzen.]

20. Januar 1871
Marsch nach Corbeil, bewunderten den großartigen, noch unvollendeten Aquädukt, der Paris mit Trinkwasser versorgen soll! Wurden durch endlose Kolonnen sehr aufgehalten und es war sehr schwer, die Unterbringung aller zu erreichen.

[Kommentar: Der Aquädukt von la Vanne war Teil eines ehrgeizigen Infrastrukturprojekts Napoleons III. Die Erwähnung dokumentiert das Nebeneinander von moderner Technik und militärischer Belastung.]

21. Januar 1871
Marsch nach Tournan über das hübsch gelegene Brie, wo der berühmte Käse herkommt. Beschießung von St. Denis.

[Kommentar: Der Eintrag verbindet Alltagsbeobachtung mit militärischem Kontext – die Käseassoziation mit Brie steht exemplarisch für das französische Kulturland, während St. Denis als nördliches Fort zur militärischen Bedrohung gehörte.]

22. Januar 1871
In dem wohlbekannten Lagny eingetroffen, dort Ablieferung der Gefangenen, deren Zahl sich nun auf 1406 und 50 Offiziere herausstellte – jedenfalls, wenn es nie mehr gewesen, denn die Mehrzahl schien über ihr Schicksal nicht nur getröstet, sondern erfreut zu sein. Nun kamen sie zur Weiterbeförderung auf die Bahn. Schlechtes Unterkommen in einer Ferme von Rothschild.

[Kommentar: Der Ton des Eintrags ist nüchtern, fast ironisch. Die Lage der Gefangenen wird nicht tragisch, sondern als logistisches Ereignis dargestellt. Die Rothschildsche Ferme verweist auf die Präsenz jüdisch-französischer Großgrundbesitzer in der Region.]

Waffenstillstand und diplomatische Phase in Versailles

23. Januar 1871
In Ozoir-la-Ferrière mäßiges Quartier.

24. Januar 1871
Ruhetag in Ozoir-la-Ferrière, denselben zu einem Ausflug nach der Besitzung von Rothschild: La Ferrière benutzt. Es ist reizend schön, geschmackvoll. Der schöne Park von Hirschen und Fasanen belebt, prächtige Palmenhäuser.

[Kommentar: Der Ausflug zeigt Kontraste zum Kriegsgeschehen: eine Welt bürgerlicher Pracht, Gartenkunst und Sammelleidenschaft – die jedoch nicht als skandalös, sondern bewundernd geschildert wird.]

25. Januar 1871
Nach starkem Marsch in Château de Longpont eingetroffen, woselbst sehr gutes Quartier. Nicht vergessen, dass es ein Tag trauriger Erinnerung ist.

[Kommentar: Der letzte Satz ist kryptisch – möglicherweise ein persönlicher Todes- oder Gedenktag. Ohne weitere Hinweise bleibt der Zusammenhang offen.]

26. Januar 1871
Vor Paris Forts besetzt, Einstellung des Feuers. — Bei empfindlicher Kälte und Glätte kurzer Marsch nach Limours, stets als Quartiermacher voraus. Abends nach Versailles, dort viele herrliche Nachrichten erfahren.

[Kommentar: Die Feuerpause war Teil des beginnenden Waffenstillstands. Die gleichzeitige Mobilität zeigt, dass die Arbeit der Quartiermacher noch nicht abgeschlossen war.]

27. Januar 1871
Marsch nach Montfort-l'Amaury; am 28. dort Ruhetag in sehr komfortablem Logis.

28. Januar 1871
Unterzeichnung des Waffenstillstands in Versailles. — Mit Lübbe, Wedell, Kaisenberg nach Versailles gefahren, dort von nichts als von den schwebenden Verhandlungen die Rede. Nahmen unter anderem Merkwürdigkeiten auch die Vernetsche Napoleonssäule in Augenschein, dinierten neben der Fürstentafel im Hôtel des Réservoirs. Unser Cicerone rühmte unseren Kronprinzen: „Que toute la ville adore !“

[Kommentar: Der Eintrag belegt hautnahe Teilnahme an den diplomatisch und propagandistisch aufgeladenen Vorgängen in Versailles. Die Mischung aus Sightseeing, Festtafel und Politik illustriert das Selbstverständnis des siegreichen Offizierskorps.]

Besetzung der Forts und Etappenbewegungen in der Normandie

29. Januar 1871
Besetzung des Mont Valérien und der anderen Forts um Paris. — Mit Kalisch voraus nach Houdan, woselbst das Regiment aus früherer Bekanntschaft her: très bien venue war und jeder sein altes Quartier aufsuchte.

[Kommentar:  Der Eintrag verknüpft ein zentrales militärisches Ereignis mit einem beinahe persönlich-familiären Rückkehrmoment. Die Besetzung des Mont Valérien, einer der wichtigsten westlichen Höhenzüge und Festungspunkte im Verteidigungssystem von Paris, symbolisiert die vollständige militärische Niederlage der französischen Hauptstadt. Damit war die operative Aufgabe der Pariser Festung im Wesentlichen abgeschlossen. Parallel zur großen strategischen Wende erfolgt jedoch eine Bewegung, die fast alltäglich oder nostalgisch anmutet: die Rückkehr des Regiments nach Houdan, wo man bereits zuvor einquartiert war. Dass „jeder sein altes Quartier aufsuchte“ und man dort „très bien venue“ war, deutet auf eine freundliche Aufnahme durch die Zivilbevölkerung und vertraute Verhältnisse – bemerkenswert in einer Besatzungssituation.]

30. Januar 1871
Nach Anet, dort im Schloss, das im alten Stil restauriert und höchst originell eingerichtet ist, einquartiert; gehört dem reichen Bankier Herrn Moreau. Feierten dort Rederns Geburtstag.

31. Januar 1871
Auf sehr glatten Wegen nach Évreux, nach viel Plagerei mit dem Quartiermacher noch nach Gravigny geschickt. Zum Essen wieder nach Évreux, wo bei den dort stationierten 4. Kürassieren Berliner Bekannte angetroffen wurden: Borries und Reck.

[Kommentar: Die Nennung bürgerlicher Namen dokumentiert das familiäre Netz innerhalb der preußischen Armee. Gravigny war ein typisches Ausweichquartier.]

1. Februar 1871
Nach Le Neubourg. Rheinbaben, „Eurebaben“ (wegen seiner vielen Quartiere an der Eure so genannt) ist an Wittichs Stelle Kommandeur der 22. Infanterie-Division geworden.

[Kommentar: Der Spitzname „Eurebaben“ spielt humorvoll auf die häufigen Standortwechsel des Generals Rheinbaben im Département Eure an. Die Personalnachricht markiert eine Führungsänderung auf Divisionsebene.]

2. Februar 1871
Nach Iville; bei einem Pferdehändler (Schröder, Mahlwinkel), der sich die größte Mühe gibt, sich gefällig zu zeigen und ausgezeichnet für die Pferde sorgt. Hier in der Normandie hat das Land und haben die Leute ein ganz anderes Ansehen. Letztere sind blond, haben blaue Augen. Die Häuser liegen zerstreut inmitten eines Hofes oder Gartens und haben Strohdächer. Hier nur 4 Meilen von Rouen entfernt, soll bald ein Abstecher dorthin gemacht werden. Herrlicher Frühlingstag. Reichen Briefschatz erhalten (Nr. 53–58).

[Kommentar: Eine ethnographisch anmutende Beobachtung der normannischen Bevölkerung – idealisiert und typisierend. Der Frühlingseinbruch und der Briefempfang heben die Stimmung.]

5. Februar 1871
In Iville, morgen Ausflug nach Rouen.

[Kommentar: Iville diente mehrere Tage als Standort vor dem Ausflug in die Regionalhauptstadt.]

6. Februar 1871

Machten uns früh nach Rouen auf in Gesellschaft von Rittmeister Kleist, Redern und Wedell. Für „Papillon“, la grosse bête, war die Ladung offenbar etwas schwer und mit Schwierigkeit gelangte man zunächst nach Elbeuf, armseliger Fabrikort. Von dort per Schiff weiter; Ufer reizend: Felspartien, Wald, Wiesen, hübsche Villen. Schöne Seinebrücken zerstört bei Wallfahrtsort von Secours (?). Weiter nach 1 ½ Stunde in Rouen. Herrliche Kirchen. Im Hafen auch einige Seeschiffe. In einem schönen Hotel abgestiegen. Nach Frühstück Umgang durch die Stadt. In der Kirche St. Madon Grabmal von Richard Cœur de Lion. Am schönsten das Palais de Justice. Vetter Henning Bismarck getroffen, durch Depesche zurückgerufen. „Papillon“ flog nun gar nicht mehr.

[Kommentar: Der Eintrag zeigt den Übergang vom militärischen zum bürgerlichen Erleben im besetzten Frankreich. Er dokumentiert nicht nur Kriegsbewegungen, sondern auch Begegnungen mit Kultur, Landschaft und Familie – eine seltene Perspektive auf den Feldzug, frei von Frontgeschehen und durchzogen von individueller Wahrnehmung.  Die ironische Bemerkung über das überladene Reittier „Papillon, la grosse bête“ verleiht dem Text humoristische Leichtigkeit.]

7. Februar 1871
Nach Hameau d’Étrés durch hübsche Gegenden gelangt. Sehr primitiv hier das Unterkommen. Viel Pferdezucht (Percherons).

[Kommentar: „Percherons“ sind schwere normannische Kaltblutpferde, damals bedeutend für Militärlogistik und Landwirtschaft.]

9. Februar 1871
Großpapa Flotow in Berlin 1871 gestorben, 9. November, beigesetzt am 13. in Angern. — Von Étrés ausgerückt nach La Roussière.

[Kommentar: Rückblick auf den Tod des Großvaters (Flotow) in Berlin – mit exaktem Sterbedatum. Diese persönliche Notiz wird bewusst in das Kriegstagebuch integriert.]

10. Februar 1871
Um 7 Uhr früh ausgerückt zum Quartiermachen nach La Neuve-Lyre, Burgflecken. Mit dem Rittmeister und Wedell bei einem Rentier sehr gut untergekommen, seine schönen Weine sind nicht zu verachten. Wir die ersten Deutschen, die hier ins Quartier kommen. „N’est-ce pas, vous allez à présent à Paris et vous nous donnerez un roi“, äußerte neulich ein Bauer.

[Kommentar: Der Spott des französischen Bauern („und ihr gebt uns jetzt einen König?“) verweist auf die Proklamation des Kaisers in Versailles und französische Befürchtungen.]

11. Februar 1871
In La Neuve-Lyre. Zwei Kompanien 75 rückten ein, mit ihnen Vetter Henning Bismarck. Soll morgen nach seinem Bestimmungsort Aigle weiterziehen.

[Kommentar: Henning Bismarck – vermutlich enger Verwandter – wechselt den Einsatzort. Sein Weiterzug nach Aigle, einer Stadt im Département Orne, verweist auf die laufende Umverteilung von Truppenteilen zur Sicherung westlicher Regionen nach Abschluss der Hauptkämpfe um Paris]

Ruhezeit in La Neuve-Lyre und Übergang zur Besatzung

15. Februar 1871
Immer noch in La Neuve-Lyre, wo Menschen und Pferde sich sehr wohl befinden und etwas Ruhe genießen.

[Kommentar: Ruhephase nach Wochen des Marschierens. Der Ort wird mehrfach als angenehm beschrieben.]

18. Februar 1871
Übergabe der Besatzung von Belfort. Kapitulation schon am 16ten. — Im Kantonnement La Neuve-Lyre nichts Neues. Gestern die Nachricht von Großpapa Flotows Tod erhalten!

[Kommentar: Die späte Nachricht vom bereits im November 1870 verstorbenen Großvater wird hier emotional eingeordnet.]

19. Februar 1871
Es war ordentlich schwer, von La Neuve-Lyre und den liebenswürdigen Wirtsleuten dort (Mr. und Madame Alfred Deseulle) fortzugehen, wie es doch nun geschehen musste, um nach Brionne, 4 Meilen von hier, abzurücken. Doch war der Marsch an herrlich sonnigem Tage auf vorzüglicher Chaussee, durch schöne Wälder, freundliche Wiesentäler und betriebsreiche Orte sehr hübsch. Auch die Husaren hatten sich in L.N.L. sehr beliebt gemacht und beim Abschied Herzen und Taschentücher stark in Bewegung. Sind nun der 1. Infanterie-Division (Armee Göben) zugeteilt.

[Kommentar: Emotionaler Abschied, atmosphärisch dicht beschrieben. Zuweisung zur Division Goeben. Zugleich markiert der Eintrag die formale Zuweisung zur 1. Infanterie-Division unter General von Goeben, einem der führenden Kommandeure der preußischen Westarmee. Diese Division war für die Ordnung und Sicherung in der besetzten Zone zuständig.]

20. Februar 1871
In Brionne, einem kleinen freundlichen Städtchen, war sehr viel Einquartierung. Es ist ein betriebsamer Ort im Tal, zahlreiche Mühlen und heimatlicher Tannenwald. Wir essen hier zusammen im Hotel und zahlen fürs Diner 2 ½ Fr, 2 Fr Wein dazu, 2 Fr Frühstück, petite tasse und petit œuf ½ Fr.

[Kommentar: Seltener Einblick in die Verpflegungskosten der Offiziere – sozioökonomischer Alltag.]

22. Februar 1871
Verlängerung des Waffenstillstands bis 26. Februar. In gutem Quartier im freundlichen Städtchen Brionne. — Kurd an seinem Geburtstag auch in gutem Quartier in Sonsay mit Kamerad Kunow im besten Einvernehmen und auch ganz gemütlich mit seinen Wirtsleuten, einer Doktorfamilie, verkehrend. Herrliches Frühlingswetter.

[Kommentar: Familiäre Information über Bruder Kurd, eingebettet in ein poetisch gefärbtes Friedensbild.]

Friedenspräliminarien und religiöse Deutung des Kriegsendes

23. Februar 1871
Immer noch in Brionne, machen öfter Spazierfahrten mit dem Franzosenpferd in den Wald von Beaumont. Hatten heute Besichtigung vom General. Erst spät durch Telegramm die Unterzeichnung der Friedenspräliminarien erfahren. Hatten gestern schönen Gottesdienst in der hiesigen katholischen Kirche. Feldprediger Sohr der 1. Inf. Div. predigte in einfacher, zu Herzen gehender Weise über: „Das Gebet des deutschen Kriegers, dass der Waffenstillstand zum Frieden werde!“ Gesungen: „Ach, bleib mit deiner Gnade“ und „O Lamm Gottes“. Mit großer Teilnahme den Tod von Tante Cramm erfahren! — NB: aus Versehen schon zum 23ten diese Notizen gemacht, die nach dem 26.–27ten gehören.

[Kommentar: Diese tief religiöse Reflexion gehört zum bewegendsten Abschnitt des Tagebuchs. Die Hymnen und die schlichte Predigt spiegeln eine Mischung aus Demut, Hoffnung und Verlust.]

26. Februar 1871
Unterzeichnung der Friedenspräliminarien in Versailles.

[Kommentar: Der formale Übergang vom Krieg zur diplomatischen Lösung. Mit diesem knappen Eintrag wird ein schlüsselhaftes politisches Ereignis des Deutsch-Französischen Krieges festgehalten: die Unterzeichnung der Friedenspräliminarien in Versailles markiert den formalen Übergang von der militärischen zur diplomatischen Phase. Es handelt sich um ein Vorab-Abkommen, das die grundlegenden Bedingungen für den späteren endgültigen Friedensvertrag (Frankfurter Frieden, Mai 1871) festlegte. Die Wahl von Versailles als Ort unterstreicht zugleich die symbolische Dominanz des deutschen Reiches über Frankreich: Versailles war nicht nur Ort der Kaiserproklamation am 18. Januar, sondern nun auch Schauplatz der Kapitulation und Verhandlung. Der Tagebucheintrag selbst bleibt sachlich und ohne emotionalen Kommentar – wohl Ausdruck der Erschöpfung nach monatelangem Feldzug oder der disziplinierten militärischen Haltung des Autors.]

28. Februar 1871
Vom Brionne nach Conches — hübsche, auf waldiger Höhe dominierende Lage. Bei Mr. Le Fort ein sehr angenehmes Quartier. Hier traf die Friedensbotschaft ein, daher viel Grund, Conches in freundlichem Andenken zu bewahren!

[Kommentar: Der Ort Conches symbolisiert für Fritz das Ankommen im Frieden.]

2. März 1871
Ratifizierung des Präliminarfriedens Versailles.

[Kommentar: Mit der Ratifizierung durch beide Seiten wird der in Versailles unterzeichnete Friedensvorvertrag formal gültig. Ein zentraler Schritt hin zur Beendigung des Deutsch-Französischen Krieges.]

3. März 1871
Dankgottesdienst für den Frieden. Zweite Parade Kaiser Wilhelms vor Paris. Abzug der deutschen Truppen aus Paris.

[Kommentar: Dieser Tag steht im Zeichen der offiziellen Friedensdankbarkeit und symbolträchtigen militärischen Gesten: Der Dankgottesdienst verweist auf die religiöse Durchdringung staatlicher und militärischer Ereignisse im 19. Jahrhundert. Er betont die Vorstellung, dass der Erfolg des Krieges göttlicher Fügung zu verdanken sei – eine Sichtweise, die insbesondere im protestantisch-preußischen Offizierskorps tief verwurzelt war.
Die zweite Parade Kaiser Wilhelms vor Paris markiert einen letzten demonstrativen Akt preußischer Überlegenheit. Bereits am 17. Januar 1871 war Wilhelm in Versailles zum Deutschen Kaiser proklamiert worden – nun folgt eine abschließende militärische Machtdemonstration an der Hauptstadt des besiegten Frankreich.
Der Abzug der deutschen Truppen aus Paris – nach dem nur kurzen symbolischen Einzug am 1. März – bedeutete nicht das Ende der Besetzung Frankreichs, wohl aber das Verlassen der umkämpften Metropole. Dieser geordnete Rückzug war diplomatisch abgestimmt und Teil der Vereinbarungen des Waffenstillstands. Der Tag ist somit ein Wendepunkt: Das militärische Kapitel des Kriegs schließt sich, die Phase des politischen Ausgleichs beginnt.]

Rückführung und Normandie-Reise

4. März 1871
Bodenhausen aus der Gefangenschaft wieder beim Regiment eingetroffen und mit Jubel empfangen. An 70 Offiziere sind in Le Puy mit ihm in Gefangenschaft gewesen.

[Kommentar: Die Rückkehr Bodenhausens dokumentiert das beginnende Kriegsende auch auf persönlicher Ebene. Die Erwähnung der Offizierszahl deutet auf größere Gefangenentransporte.]

5. März 1871
Von Conches per Eisenbahn mit Zahlmeister Metz nach Rouen, dort Geld in Empfang zu nehmen. Durch sehr bekannte Gegenden gekommen. In Nantes 6 Stunden Aufenthalt, Bekannte besucht. Wie alte Bekannte von den Einwohnern begrüßt. In Rouen zu spät eingetroffen, um die Geschäfte abzumachen, also weiter nach Dieppe gefahren. 8 Uhr abends angelangt, im Hôtel des Bains (?) am Strande gelegen, abgestiegen mit Aussicht über das Meer, noch stundenlang am Strande und beim Leuchtturm auf der Mole zugebracht.

[Kommentar: Dieser Eintrag dokumentiert eine administrative Mission im Nachgang des Feldzugs: Die Reise mit dem Zahlmeister dient der finanziellen Versorgung der Truppe – vermutlich ging es um Soldauszahlungen oder Materialkosten. Die Nutzung der Eisenbahn („per Eisenbahn“) belegt erneut die entscheidende Rolle der modernen Transportmittel für die logistische Infrastruktur des Krieges, insbesondere in der Waffenstillstandszeit.
Bemerkenswert ist der Zwischenhalt in Nantes, das eigentlich nicht auf direkter Strecke zwischen Conches und Rouen liegt. Möglicherweise handelt es sich um einen Übertragungsfehler und es war Chartres, Mantes oder Évreux gemeint – Orte, die im Kontext der anderen Einträge plausibler wären. Die Erwähnung, wie „alte Bekannte“ von den Einwohnern begrüßt worden zu sein, verweist auf eine frühere Stationierung oder positive persönliche Kontakte – ein interessanter Kontrast zur teils angespannten Stimmung in anderen französischen Orten.
Der Tagesabschluss in Dieppe, einem normannischen Hafen am Ärmelkanal, markiert einen seltenen Moment der Muße: Die Beschreibung des Spaziergangs „stundenlang am Strande und beim Leuchtturm auf der Mole“ hebt sich atmosphärisch deutlich von den sonstigen militärischen Notaten ab. Sie vermittelt das Bild eines jungen Offiziers, der nach Wochen im Feld erstmals wieder die Weite des Meeres und den zivilen Alltag eines Küstenorts erlebt – eine Momentaufnahme des Übergangs von Krieg zu Frieden.]

6. März 1871
Nähere Besichtigung von Dieppe. Dort hübsche Elfenbeinläden. Als Hafen wenig Bedeutung, weil der Hafen zu flach – bei Ebbe liegen alle Schiffe auf dem Trockenen. Herrlich ist der Strand wie eine breite grüne Esplanade, links und rechts begrenzt von den mächtig steil ins Meer abstürzenden Kreidefelsen. Altes, düsteres Normannenschloss. Plessen und Henning Bismarck getroffen. Nachmittag Konzert und dann Abfahrt nach Rouen.

[Kommentar: Landschaftliche und kulturelle Eindrücke bestimmen den Tageseintrag – ein Moment friedlicher Erkundung nach dem Ende der militärischen Phase.]

7. März 1871
Tante Clara von Flotow + in Berlin.
In Rouen. Von da den Wallfahrtsort Bon Secours besucht. Die Kirche im Innern ausgezeichnet durch große Pracht, aber zu bunt. Kirche St. Ouen vorzuziehen, vollendet schön. Eigentümlich die Spiegelung der Kirche im Weihbecken. Unterhaltung mit dem Erzbischof. Militärisches Schauspiel auf dem Champs de Mars.

[Kommentar: Der Tod von Tante Clara wird ohne Emotion vermerkt, während die Beschreibung der Kirchen kunsthistorisch präzise ausfällt. Die Begegnung mit dem Erzbischof verweist auf den gesellschaftlichen Rang.]

9. März 1871
Von Rouen nach Mantes. Die Stadt hatte Besuch von 12.000 nach Paris gehenden Franzosen gehabt und die früher den Preußen so freundlichen Einwohner wollten nun nicht mehr recht viel von ihnen wissen. Schiffbrücke über die Seine war geschlagen, das Regiment war noch nicht eingetroffen.

[Kommentar: Deutlicher Hinweis auf die zunehmende Spannung nach dem Krieg, besonders im Hinblick auf die Pariser Kommune und den sich wandelnden Volkszorn.]

Frühjahrsmärsche und Kontakte zum französischen Adel

10. März 1871
Benachrichtigung von Felix Wedells Verlobung. Wenige Tage darauf Annonce. Braut: Margarethe von Südow-Boesfeldt.

[Kommentar: Privates Ereignis im Kontext militärischer Dienstzeit – Verlobung als Rückkehr zur Normalität.]

11. März 1871
Wunderhübscher Marsch nach Cergy, was früher schon mal berührt war. Von der Höhe wahrhaft reizender Blick auf das fruchtbare Seinetal, den Wald von St. Germain, auf den alten biederen Mont Valérien usw.

[Kommentar: Wiederholungsschleife im Marschverlauf – landschaftliche Eindrücke dominieren, wirken fast poetisch.]

12. März 1871
Ruhetag in Cergy. Musste als Quartiermacher voraus nach Le Mesnil St. Denis.

[Kommentar: Der Begriff „Ruhetag“ ist in diesem Zusammenhang irreführend – der Verfasser war auch an diesem Tag dienstlich aktiv. Als Quartiermacher übernahm er eine militärisch und logistisch zentrale Aufgabe: Er musste vor dem Eintreffen der Truppe geeignete Unterkünfte für Soldaten, Pferde und Material organisieren, Verpflegung sicherstellen, mit der lokalen Zivilbevölkerung verhandeln und etwaige Belegungspläne mit den militärischen Vorgesetzten abstimmen. Dies bedeutete in der Praxis oft lange Ritte, improvisierte Verhandlungen in Landessprache und Belastung in unbekanntem Gelände – und zwar noch während der Übergangszeit vom aktiven Krieg zur Friedensordnung.
Le Mesnil Saint-Denis liegt südwestlich von Versailles und war Teil der Marschroute in Richtung der normannischen Etappenräume. Dass gerade in dieser Phase Quartiermacher wie Schulenburg eingesetzt wurden, verweist auf die fortbestehende logistische Herausforderung im Waffenstillstand: Die Truppen mussten versorgt, geordnet untergebracht und auf ihre Demobilisierung oder weitere Verwendung vorbereitet werden. Die Tätigkeit erforderte ein hohes Maß an Selbstständigkeit, Überblick und diplomatischem Geschick – besonders im Kontakt mit der französischen Bevölkerung, die nicht selten kriegsmüde, überfordert oder feindselig reagierte. In der Kombination aus hoher Verantwortung und fehlender Sichtbarkeit in der offiziellen Kriegsberichterstattung zeigt sich die oft unterschätzte Rolle der Etappen- und Organisationsoffiziere in der Schlussphase des Krieges.]

13. März 1871
Voraus als Quartiermacher nach Le Tillet, ritt nach Mello mit prachtvollem Château, dem Baron de Seillier gehörig, bewohnt von dessen Tochter, der Herzogin von Sagan. Blieb bei guten Leuten zur Nacht, die noch nie Einquartierung gehabt hatten.

[Kommentar: Begegnung mit Hochadel – die Herzogin von Sagan war eine prominente Figur. Der Satz über die „guten Leute“ zeigt Empathie.]

14. März 1871
Die Schwadron in Ully St. Georges einquartiert. Nachmittags noch 4–5 Meilen weitergeritten über Lioncourt (La Rochefoucauld) nach Magueliens bei Les Trois St. Denis, dort waren noch 16te Ulanen und nur mäßiges Quartier.

[Kommentar: Der Eintrag dokumentiert die Verteilung der Truppen im Rückzugsgebiet. Die Nennung von „La Rochefoucauld“ spielt auf einen traditionsreichen französischen Adelstitel an.]

15. März 1871
Nach Mareuil. Unmöglich, im kleinen Bergort die Schwadron unterzubringen. Am Abend nach dem hübschen Château Elincourt geritten. Die Schwadron musste in 3 oder 4 Orten verteilt werden.

[Kommentar: Logistische Herausforderung in dünn besiedeltem Gebiet. Das Château Elincourt deutet auf weiteren Aufenthalt in aristokratischen Kreisen.]

16. März 1871
Am Morgen Schneesturm von einer Heftigkeit, wie noch nie erlebt. Augenaufmachen und Atemholen kaum möglich. Schnee blieb auch ganz hoch liegen. Nachmittags Ritt nach Orvilliers. Schönes Schloss dort, aber vorläufig Quartier im Dorf. Als der Besitzer, Mr. de Segonzac, den Namen Schulenburg hörte, wurde er sehr freundlich und sagte: „Mais c’est le nom d’un de mes meilleurs amis, qui est mort il y a 5 ans. Il habitait de Tilleloy.“

[Kommentar: Das Wetter erschwert die Truppenbewegung erheblich. Der Name „Schulenburg“ weckt Erinnerungen beim französischen Schlossherrn – ein Zeichen adliger Netzwerke über Landesgrenzen hinweg.]

17. März 1871
Einladung aufs Schloss des Mr. de Segonzac zu kommen mit anderen Offizieren. Rückkehr Kaiser Wilhelms nach Berlin und festlicher Empfang desselben.
Ob sie mich liebt?

[Kommentar: Der Eintrag verbindet offizielle Ereignisse und einen plötzlichen privaten Reflexionsmoment. Die Einladung aufs Schloss des Mr. de Segonzac belegt weiterhin die freundschaftlichen Bande zwischen deutschen Offizieren und französischem Landadel – ein bemerkenswerter Kontrast zur gerade erst beendeten militärischen Auseinandersetzung. Die höfliche Aufnahme auf dem Schloss dürfte nicht nur auf soziale Etikette, sondern auch auf adelige Solidarität zurückzuführen sein.
Die Rückkehr Kaiser Wilhelms I. nach Berlin und sein dortiger Triumphempfang markieren einen politisch bedeutsamen Augenblick: Es ist der öffentlich inszenierte Abschluss des Feldzugs, verbunden mit nationaler Identitätsbildung und monarchischer Repräsentation.
Die plötzliche persönliche Notiz – „Ob sie mich liebt?“ – bricht mit dem offiziellen Ton des Tagebuchs. Sie wirkt fast ungeschützt und stellt eine der wenigen eindeutig emotionalen Regungen des Verfassers dar. Es bleibt offen, auf wen sich dieses kurze Innehalten bezieht. Doch vor dem Hintergrund der adeligen Gastfreundschaft auf Schloss Sorel und früherer Begegnungen mit Frauen des französischen Hochadels (etwa der Herzogin von Sagan am 13. März), ist es naheliegend, dass hier ein persönlicher Eindruck oder eine flüchtige Bekanntschaft nachwirkt.
Einordnung in das spätere Privatleben: Friedrich Wilhelm Christoph Daniel von der Schulenburg heiratete erst neun Jahre später, am 14. Juli 1880, Luise Karoline Friederike Melanie von Angern-Stilcke. Die familiären Verbindungen und der Heiratsort Wülfingerode deuten auf eine klassisch arrangierte Ehe zwischen zwei altmärkisch-thüringischen Adelsgeschlechtern. Umso stärker fällt dieser frühe, spontane Eintrag aus dem Jahr 1871 auf – als seltenes Zeugnis jugendlicher Sehnsucht oder romantischer Verunsicherung, festgehalten mitten im militärischen Alltag.]

18. März 1871
Ein Tag traurigen Andenkens in der Geschichte des Vaterlandes. Auf Château Sorel liebenswürdige Aufnahme und wundervolles Quartier.

[Kommentar: Der 18. März markiert den Ausbruch der Pariser Kommune – mit „traurigem Andenken“ gemeint. Das Château Sorel bildet einen bewussten Gegenpol: ländlich, ruhig, aristokratisch.]

19. März 1871
[Kein Eintrag.]

20. März 1871
Besuch mit Wedell von Château Tilleloy, früher Graf Schulenburg-Oynhausen gehörig. Trafen den jetzigen Besitzer, einen jungen, etwas blasierten Pariser, der allenthalben umherführte. Im Ahnensaal noch der Kupferstich des Feldmarschalls Johann Matthias von der Schulenburg. In der Kapelle Schulenburg ist Gemahlin knieend dargestellt. Schloss sehr schön mit wundervollem Treppenhaus. Besitz überhaupt sehr großartig. Schulenburg steht noch im besten Andenken.
NB. Der jetzige Besitzer ist ein Comte d’Hinnisdal.

[Kommentar: Eindrucksvolle Rückverbindung zur eigenen Familiengeschichte. Die Darstellung des Ahnensaals ist Ausdruck adliger Selbstvergewisserung.]

21. März 1871
Das Eiserne Kreuz erhalten. Erfuhr es gestern auf der Fahrt nach Compiègne durch Heister. General Redern rief die aus der Brigade dekorierten Herren, und überreichte es uns im Namen des Kaisers. Der gute Oberst und der Rittmeister gratulierten freudestrahlend. Schloss Compiègne wird jetzt vom königlich sächsischen Ehepaar bewohnt. Was Compiègne hauptsächlich seinen Ruf gegeben hat, ist der stolze, enorme Wald, in den man vom Schlossportal einen tiefen Einblick hat, nämlich auf die herrliche Avenue. Um 2 Uhr spielte die Gardeschützenmusik und die Französinnen in Landestrauer spazierten in angemessener Entfernung, in der sie aber noch die Musik hören konnten.

[Kommentar: Der Erhalt des Eisernen Kreuzes ist ein Höhepunkt der persönlichen Kriegsbiografie. Die Beschreibung von Compiègne zeigt ästhetisches Empfinden und höfische Atmosphäre.]

22. März 1871
In Compiègne fand zur Feier des Tages ein Diner statt für die Garnison des Orts. Kronprinz von Sachsen nahm daran teil. Hatten Parade mit Hoch auf den Kaiser, Vorbeimarsch… (Anzahl von Mannschaften mit dem Eisernen Kreuz). Der Oberst versammelte die Reserveoffiziere um sich, da welche entlassen werden sollten, und forderte die, welche noch beim Regiment bleiben wollten, auf, sich zu melden. Bleibe mit Wedell. Dadurch zur 4. Eskadron gekommen.

[Kommentar: Die feierliche Stimmung nach der Dekoration mischt sich mit ersten Auflösungserscheinungen der Truppe. Der Verbleib bei der 4. Eskadron ist freiwillige Entscheidung.]

Pariser Kommune, Rückzug und symbolische Heimkehr

23. März 1871
Nach Compiègne zur Meldung bei den Generalen und von dort mit Arnim Ausflug nach St. Denis per Bahn über Pontoise und Enghien in 4 Stunden. Besuch der berühmten herrlichen Katakomben mit der Königsgruft. Vom Turm schöne weite Aussicht. Fort de l’Est in Augenschein genommen.

[Kommentar: Der Ausflug verbindet historische Bildung (Königsgruft) mit strategischer Ortskenntnis (Fort). Der Name Arnim könnte auf eine bekannte preußische Adelsfamilie hinweisen.]

24. März 1871
Fuhren von St. Denis nach Aubervilliers, wegen der Pariser Unruhen jetzt noch besetzt, sah sehr verwüstet aus. Der Ort erstreckt sich bis an die Vorstadt. Partie des Ausgangs nur etwa 300 Schritt von der Pariser Stadt enceinte entfernt; dieser Aufgang war bis auf eine Wagenbreite verbarrikadiert. Dann ging’s nach La Bourget, dem Schauplatz so manchen heißen Kampfes, und auch Dugny, endlich durch das Werk Double Couronne zurück nach St. Denis und später nach Compiègne.

[Kommentar: Der Zustand Aubervilliers’ illustriert die unmittelbaren Auswirkungen der Kommune-Unruhen. Die Route folgt historischen Schlachtfeldern.]

25. März 1871
Am 25ten nach Cuvilly gekommen zu einem Bourgeois, der gern von seinem Reichtum erzählt.

[Kommentar: Ironisch gefärbte Beobachtung der bürgerlichen Gastgeber.]

Heimkehr und familiäre Wiederankunft in Angern

26. März 1871
Ruhetag in Cuvilly.

[Kommentar: Kein weiterer Eintrag – deutet auf tatsächliche Ruhepause.]

27. März 1871
In Cuvilly. Haben in Abteilungen reiten lassen und es beginnt der gewöhnliche Garnisonsdienst. Herrlich entfaltet sich jetzt der Frühling, auch Mandeln stehen in voller Blütenpracht. Viel schöne Schlösser sieht man hier mit Parkanlagen; fast alle Besitzer sind Legitimisten und stehen mit den Offizieren ihrer Einquartierung in freundlichem Vernehmen. Schloss Tilleloy ist aber die Krone von allen.

[Kommentar: Frühling und Legitimität – eine Kombination von Naturidyll und monarchischer Gesinnung. Tilleloy wird erneut hervorgehoben.]

28.–29. März 1871
[Keine Einträge.]

30. März 1871
Fortgesetzt in Cuvilly, heute Mittag aber geht’s wieder nach Château Sorel zu der liebenswürdigen Familie de Segonzac.

[Kommentar: Rückkehr zur höfischen Idylle – offenbar bevorzugter Ort des Tagebuchautors.]

1.–11. April 1871
Immer noch im schönen Château de Sorel in Quartier, mit Dienst, Exerzieren u. s. f. wie in der Garnison beschäftigt. Schöne Spazierritte werden oft gemacht. Auch besuchen sich die Offiziere der verschiedenen Schwadronen. Auch mal in Elincourt gewesen.

[Kommentar: Die ruhige Quartierzeit in Sorel steht im Kontrast zur angespannten Lage in Paris, wo sich die Kommune bereits konstituiert hatte. Der Alltag in der Provinz dagegen ist von Repräsentation und Routine geprägt.]

13. April 1871
Hübschen Ausflug nach Compiègne gemacht, dort mit Wedell zusammen. Lange Promenade in dem herrlichen Wald. Später Fahrt nach Pierrefonds. Es ist ein alter Rittersitz in imponierenden Dimensionen, im Charakter des 14. Jahrh. Bei dort befindlichen neuen Schlößchen ein prachtvolles Palmenhaus. Viele Offiziere dort getroffen.

[Kommentar: Pierrefonds wurde ab 1858 von Viollet-le-Duc im neugotischen Stil restauriert und war ein Sinnbild für die Rückbesinnung auf mittelalterliche Architektur im Second Empire. Die Erwähnung zahlreicher Offiziere unterstreicht die Funktion solcher Orte als Treffpunkt und Statusraum.]

22. April 1871
Immer noch bei den liebenswürdigen Segonzac’s. Zu der Eltern Geburtstagen gratulierend nach Hause geschrieben.

[Kommentar: Die Verbindung zur Familie de Segonzac bleibt auch über Wochen bestehen. Gratulationen an die Eltern verweisen auf die Aufrechterhaltung familiärer Pflichten – selbst im Quartier.]

23. April 1871
Nach Compiègne mit dem Rittmeister und Lübbe zum General gefahren.

[Kommentar: Die wiederholte Fahrt nach Compiègne dürfte dienstliche Gründe gehabt haben, wohl in Vorbereitung der Heimreise oder weiterer Befehle.]

25. April 1871
Frankreich verlassen, um per Dampf der Heimat zuzueilen.

[Kommentar: Die Rückreise markiert das faktische Ende des aktiven Kriegseinsatzes für den Verfasser. Der Ausdruck „per Dampf“ verweist auf die Nutzung der Eisenbahn, Symbol des technischen Fortschritts und der logistischen Reichseinheit. Der Ausdruck „per Dampf“ (statt „mit der Bahn“) war gehoben, fast poetisch – und wurde gerne in Offizierskreisen verwendet.]

28. April 1871
Heimkehr aus Frankreich nach dem Feldzug
„Du warst umgeben ganz und gar
Von Kriegesnot und Gefahr
Doch Gottes Gnadenhand
Führt unversehrt dich heim ins Vaterland!“

Kurd schon hier, bald nach Berlin gegangen, dort u. in Potsdam Verwandte u. Bekannte wiedergesehen. Am 9ten Mai hierher (Angern) zurückgekehrt und dann nach Burg Kemnitz zu Bodenhausen.

[Kommentar: Rückblickende Bilanz des Feldzugs, verbunden mit einer religiös geprägten Deutung. Die Verse folgen dem Duktus lutherischer Dankhymnen. Die Erwähnung von Burg Kemnitz – Sitz der Familie Bodenhausen – rundet das familiäre Wiederanknüpfen ab.]

29.–30. April 1871
[Keine Einträge.]

1.–3. Mai 1871
Nach dem Feldzug (am Bußtag) mit den Eltern und mit Kurd zum heiligen Abendmahl gegangen in Angern.

[Kommentar: Der kirchliche Buß- und Bettag fiel 1871 auf den 3. Mai. Die Teilnahme am Abendmahl gemeinsam mit den Eltern und Bruder Kurd betont die religiöse Rückbindung nach dem Krieg. Solche familiären Kulthandlungen waren typisch für adelige Offiziersfamilien der Zeit.]

8. Mai 1871
Nach Rückkehr aus dem Feldzug einige Tage in Berlin, wohin Kurd sich auf die Universität begeben. Dort in der Stube gewohnt, die Heynitz lange Jahre inne hatte. Einen Abstecher nach Frankfurt a. d. O. gemacht, eine Wohnung zu nehmen. Aufs Herzlichste von allen Bekannten dort begrüßt. In Berlin Berlepsch, Rottenburg, Bürgers u. Patow getroffen.

[Kommentar: Erste Schritte in das zivile Leben nach dem Feldzug. Die Erwähnung von Heynitz verweist auf ein traditionsreiches akademisches Umfeld. Frankfurt a. d. Oder war damals Sitz des Appellationsgerichts.]

Wiedereinstieg ins Zivilleben und Friedensschluss

9. Mai 1871
Abreise und Abschied von Angern vor Beginn des Feldzuges, um denselben als Reserveoffizier*) beim Magdeburger Husaren-Regiment Nr. 10, wie auch 1870, mitzumachen. Damals war Oberstleutnant v. Besser Kommandeur, jetzt Oberst von Weise, d. h. 1870–71 letzterer.
*) als Reserveoffizier erst 1870–71

[Kommentar: Rückblickende Klärung des militärischen Status. Das Husaren-Regiment Nr. 10 war eine der bedeutendsten Kavallerieeinheiten Preußens, mit starker Bindung an den mitteldeutschen Adel.]

10. Mai 1871
Friedensschluss mit Frankreich zu Frankfurt am Main unterzeichnet.

[Kommentar: Der sogenannte Frankfurter Frieden beendete offiziell den Deutsch-Französischen Krieg von 1870/71. Frankreich musste umfangreiche Gebietsabtretungen hinnehmen – insbesondere Elsass (ohne Belfort) und Lothringen (mit Metz). Zudem verpflichtete es sich zur Zahlung von fünf Milliarden Francs Kriegsentschädigung. Der Vertrag markierte nicht nur das Ende der Kampfhandlungen, sondern besiegelte auch die territoriale Neuordnung Europas zugunsten des gerade gegründeten Deutschen Kaiserreichs. Die Wahl Frankfurts als Ort der Unterzeichnung hatte symbolische Bedeutung: als Ort früherer Reichsversammlungen und Sitz der Nationalversammlung von 1848.]

Siegesfeiern und Abschluss des Feldzugs

18. Mai 1871
Mit Papa zu Edo’s Konfirmation in Roßleben. Erstes Wiedersehen mit letzterem nach dem Feldzug. Die folgenden Tage in Vitzenburg.

[Kommentar: Die Klosterschule Roßleben war ein traditionelles Erziehungsinstitut für junge Adelige; die Konfirmation markierte den Übertritt ins Erwachsenenalter.]

5. Juni 1871
Wiederbeginn der Tätigkeit am Gericht zu Frankfurt a. d. O. nach dem Feldzug
„Grau, Freund, ist alle Theorie, doch grün des Lebens goldner Baum“ – ist eine Wahrheit, die sich jetzt erst bemerklich macht!

[Kommentar: Zitat aus Goethes „Faust“. Die Rückkehr in den juristischen Alltag erscheint als Kontrast zur gelebten Praxis des Krieges. Die Bemerkung wirkt selbstironisch.]

9. Juni 1871
Elsass und Lothringen mit dem deutschen Reich vereinigt.

[Kommentar: Völkerrechtlich bedeutender Schritt – die umstrittene Annexion wurde formell vollzogen und prägte die deutsch-französischen Beziehungen langfristig.]

16. Juni 1871
Feierlicher Einzug der siegreichen Truppen in Berlin. Enthüllung des Denkmals Friedrich Wilhelms III. im Lustgarten.
„Fürchtet nun den Herrn und dienet ihm treulich von ganzem Herzen, denn ihr habt gesehen, wie große Dinge er mit euch tut!“ (1. Samuel 12,24)
Choral: „Nun danket alle Gott“
Ein ewig unvergesslicher Tag mit seiner so erhebenden Feier, die mitgemacht zu haben man sich glücklich preisen kann. Große Freude dort Bodenhausen und Felix Wedell wiedergesehen.

[Kommentar: Nationale Selbstdarstellung im religiös-militärischen Rahmen. Die Rückkehr des Heeres wurde durch monumentale Gedenkfeiern und biblisch begründete Dankbarkeit inszeniert. Das persönliche Wiedersehen zeigt die emotionale Dimension dieser Erlebnisse.]

18. Juni 1871
Siegesdankgottesdienst im Deutschen Reich

[Kommentar: Der „Dankgottesdienst für den Sieg“ war der geistlich-symbolische Abschluss des Krieges, verbunden mit der nationalen Identität der neuen Reichsgründung.]

20. Juni 1871
In Aschersleben zum Empfang des aus dem Feldzuge heimkehrenden 10ten Husaren-Regiments anwesend. Wie groß war die Freude des Wiedersehens und wie hatte St. Aschersleben alles aufgeboten, zum Empfang einen festlichen Schmuck anzulegen durch Ehrenpforten, Inschriften u. s. f. Auch Ehrenjungfrauen, Lorbeerkränze spendend, fehlten nicht. Mittags Diner im Offizierskorps. Mit dem Feldzug ist somit abgeschlossen.

[Kommentar: Feierlicher Schlusspunkt des militärischen Lebensabschnitts. Die Ehrenjungfrauen und die allegorische Festarchitektur spiegeln bürgerlich-patriotische Rituale wider. Der Eintrag fungiert auch als persönliche Zäsur.]

Fritz I. von der Schulenburg (1350–1415) war der gemeinsame Stammvater aller drei Hauptlinien des sogenannten weißen Stamms des Hauses von der Schulenburg. Seine Lebenszeit fällt in eine Epoche tiefgreifender politischer und gesellschaftlicher Umbrüche im deutsch-römischen Reich.
Kaufmann, Lehnsträger und Burgherr in Angern. Werner V. von der Schulenburg gehört zu den frühesten namentlich bekannten Mitgliedern der Familie, die sich dauerhaft auf dem Gut Angern niederließen. Seine Bedeutung liegt nicht allein in seiner Funktion als Mitbelehnter mit der dortigen Burg, sondern vor allem in seiner Rolle als Vertreter eines Adels, der im Übergang vom Spätmittelalter zur Frühen Neuzeit zunehmend auch städtisch-wirtschaftliche Handlungsspielräume wahrnahm.
Hans XII. von der Schulenburg († 1625), Sohn des Busso VI. , gehört zu jenen Gliedern des Adelsgeschlechts von der Schulenburg , deren Leben exemplarisch für die Krisen und Konsolidierungsversuche niederadliger Gutsherrschaft im frühneuzeitlichen Brandenburg steht. Seine Biografie markiert eine Übergangsphase zwischen militärischer Karriere und ökonomischer Bedrängnis, zwischen adliger Repräsentation und realer finanzieller Überforderung.
Bernhard von der Schulenburg (1427–1469) wurde im Jahre 1448 mit seinen Brüdern Busso und Matthias durch Lehnbrief Erzbischofs Friedrich von Magdeburg zu rechten männlichen Lehen belehnt.
Ritter, kurbrandenburgischer Rat, Stiftshauptmann des Erzstifts Magdeburg, Begründer des älteren Angerner Zweigs. Busso I. entstammte der weißen Linie der Familie von der Schulenburg und war der älteste Sohn des Ritters Fritz I von der Schulenburg (* um 1350, † 1415). Er wurde am 12. April 1414 noch als unmündig erwähnt, galt aber bereits am 15. April 1415 als mündig und war ab 6. August 1424 urkundlich als Ritter belegt. Sein Geburtsjahr lässt sich daher mit einiger Sicherheit auf um 1396 datieren.
Begründer der jüngeren Linie des weißen Stammes – Landeshauptmann der Altmark. Matthias I von der Schulenburg (geb. spätestens 1405 – † zwischen Februar und November 1477) war der jüngste Sohn des Ritters Fritz I von der Schulenburg (Nr. 56).
Bernhard XI. von der Schulenburg (*1475, † vor dem 15. Mai 1502) war ein altmärkischer Adliger des ausgehenden 15. Jahrhunderts und der bedeutendste Vertreter der jüngeren Linie des sogenannten weißen Stammes der Familie von der Schulenburg. Er war der älteste überlebende Sohn des Landeshauptmanns Matthias I. († um 1477) und der Anna von Alvensleben . Er war Herr auf Altenhausen , Angern und Beetzendorf .
Erbe des Ritterguts Angern, kaiserlicher Offizier und Begründer der Angerner Stammlinie. Alexander Friedrich Christoph von der Schulenburg (*5.8.1720, †1801) war der vierte Sohn Heinrich Hartwig I. Er trat das erstmals unter seinem Onkel Christoph Daniel auf die jüngeren Linie vereinigte Rittergut als Majorat an, das durch das Fideikommiss von 1762 gesichert worden war.
Ein früher Reformator, streitbarer Landadliger und Kriegsteilnehmer im Zeitalter der Konfessionalisierung. Als Sohn von Bernhard XI. von der Schulenburg und Enkel von Matthias I , des langjährigen Landeshauptmanns der Altmark, war er ein direkter Erbe der um 1485 befestigten Stellung in Altenhausen , Angern und Beetzendorf und setzte die jüngere Linie des weißen Stamms fort.
Jakob II. von der Schulenburg (*25.03.1515 in Beetzendorf, †1576 in Magdeburg). Leben, Kriegslaufbahn und Besitzpolitik eines altmärkischen Söldnerführers. Jakob II. zählt zu den herausragenden Persönlichkeiten des altmärkischen Adels im 16. Jahrhundert.
Daniel I. Reichsfreiherr von der Schulenburg (* 3. Juni 1538 in Altenhausen ; † 6. November 1594 in Angern ) (Nr. 312 in der Stammtafel) lebte in einer Zeit bedeutender politischer und wirtschaftlicher Umbrüche in der Altmark und im Erzstift Magdeburg . Am 29.09.1577 heiratete Daniel I. Ehrengard von Alten aus dem Hause Wilkenburg (* um 1556, † nach 1611). Aus dieser Verbindung gingen fünf Kinder hervor.
Henning III. von der Schulenburg (*1587, †01.09.1637) war der jüngste Sohn des Daniel I. von der Schulenburg und übernahm nach seinem Tod den Burghof in Angern. Er steht exemplarisch für die komplexe Rolle des niederen Adels im frühneuzeitlichen Brandenburg – zwischen dynastischer Kontinuität, territorialer Zersplitterung und finanzieller Prekarität.
Henning Christoph von der Schulenburg (* 1648 oder 1649 auf Angern , † 27.12.1683 in Staßfurt ) war ein kurbrandenburgischer Hauptmann. Als der älteste Sohn von Heinrich XI. von der Schulenburg (geb. 1621, gest. 1691) und Ilse Floria von der Knesebeck (geb. 1629, gest. 1712) erbte er nach dessen Tod die Güter Angern und Falkenberg .
Heinrich XI von der Schulenburg (* 06.09.1621 auf Angern , + 19.05.1691 in Kehnert ) war Sohn von Henning III. von der Schulenburg und übernahm nach dem Dreißigjährigen Krieg (1618–1648) ein schwer verwüstetes und verschuldetes Erbe auf den Gütern Angern, Kehnert und Schricke. Die Verwüstungen dieses langen Konflikts hatten nicht nur das Land, sondern auch die wirtschaftliche und soziale Struktur Brandenburg‑Preußens nachhaltig erschüttert. In den Jahren nach 1648 begann ein langwieriger Wiederaufbauprozess, der von der Notwendigkeit geprägt war, feudale Strukturen aufzubrechen und zentralisierte, absolutistisch geprägte Verwaltungsinstitutionen zu etablieren – Entwicklungen, die auch den Grundstein für den späteren Aufstieg des preußischen Staates legten.
Christoph Daniel von der Schulenburg (*1679 in Angern, †1763 ebenda) wurde geboren inmitten einer Epoche dynastischer Spannungen im Heiligen Römischen Reich. Er zählt zu den herausragenden Persönlichkeiten des brandenburgisch-preußischen Adels im 18. Jahrhundert. Sein Lebensweg vereint in exemplarischer Weise militärische Laufbahn , diplomatische Missionen und kulturelles Mäzenatentum .
Der letzte Erbe der alten Linie Angern. Heinrich Hartwig I. von der Schulenburg, Sohn von Henning Christoph , war der letzte bedeutende Vertreter der älteren Linie auf dem Rittergut Angern, ehe dieses durch seinen Bruder Christoph Daniel vollständig in der jüngeren Linie des weißen Stammes zusammengeführt wurde. Nach dem frühen Tod seines Vaters trat Heinrich Hartwig als Erbe des Burghofs hervor und bemühte sich in schwieriger Zeit um die wirtschaftliche Konsolidierung des Besitzes. Seine Rolle als Gutsherr, seine Teilnahme am savoyischen Militärdienst sowie seine familiären Verbindungen dokumentieren exemplarisch die Lebensrealität eines altmärkischen Adligen im Übergang vom Dreißigjährigen Krieg zur barocken Neuordnung der Gutswirtschaft.
Friedrich Christoph Daniel Graf von der Schulenburg (* 10. Februar 1769 auf Angern; † 16. Mai 1821 in Magdeburg) ist Sohn des Alexander Friedrich Christoph Graf von der Schulenburg .
Edo Friedrich Christoph Daniel , geb. 27.04.1816 in Angern, gest. 06.08.1904 in Angern, wurde 1821 dritter Fideikommissherr auf Angern. Edo war einziger Sohn des Magdeburger Regierungspräsidenten Friedrich Graf v.d. Schulenburg aus dessen zweiter Ehe mit der Tochter des Braunschweigischen Landdrosten, Auguste Luise Adolphine von Cramm. Bei seiner Taufe übernahm König Friedrich Wilhelm III . eine Patenstelle.
Friedrich Wilhelm Christoph Daniel Graf von der Schulenburg (* 2.1.1843 in Angern; † 1921) war Sohn des Edo Friedrich Christoph Daniel (1816-1904) und der Helene, geb. v. Schöning, die ihm ihr Tagebuch gewidmet hat. Bei seiner Taufe übernahm König Friedrich Wilhelm IV. die Patenstelle.
Sigurd Wilhelm Graf von der Schulenburg (* 1882; † 1956), Sohn des Friedrich Wilhelm Christoph Daniel (1843-1921) war der fünfte und letzte Fideikommissherr auf Angern. Bei seiner Taufe am 5. November 1882 übernahm Kaiser Wilhelm I. eine Patenstelle , wie auch bei seinem Vater, Großvater und Urgroßvater die damals regierenden preußischen Könige Taufpaten gewesen waren.
Kuno Wilhelm Christoph Daniel Graf von der Schulenburg (* 1923 in Magdeburg, † 1987 in Frankfurt am Main) war ein deutscher Jurist und Mitglied der XXI. Generation der Familie von der Schulenburg. Kuno Wilhelm wurde als einziger Sohn von Sigurd-Wilhelm Graf von der Schulenburg geboren.
Angern

Angern, Sachsen-Anhalt, Landkreis Börde. Heft 20, Berlin 2023 (ISBN: 978-3-910447-06-6).
Alexander Graf von der Schulenburg, Klaus-Henning von Krosigk, Sibylle Badstübner-Gröger.
Herausgeber: Deutsche Gesellschaft e.V.
Umfang: 36 Seiten, 59 Abbildungen.