Zwischen Kriegszustand und Gastfreundschaft: Die französische Zivilbevölkerung im Tagebuch Friedrich Wilhelm Christoph Daniel von der Schulenburg (1870/1871). Die gängige historiographische Darstellung des Verhältnisses zwischen der französischen Zivilbevölkerung und der preußisch-deutschen Besatzungsmacht im Deutsch-Französischen Krieg von 1870/71 ist von einer klaren Deutung geprägt: Angst, Feindseligkeit, Flucht und Widerstand sollen das Bild insbesondere in den frühen Phasen des Krieges dominiert haben. In französischen Quellen ist vielfach von Ohnmacht und Ressentiment gegenüber den Besatzungstruppen die Rede – ein Bild, das sich auch in der Erinnerungskultur beider Länder festgesetzt hat. Doch wie spiegelt sich diese Deutung im individuellen Erfahrungsraum eines preußischen Offiziers wider?
Das Tagebuch von Friedrich Wilhelm Christoph Daniel von der Schulenburg, aufgezeichnet während seiner Dienstzeit im Magdeburgischen Husarenregiment Nr. 10, bietet hierzu einen bemerkenswerten Gegenbefund. Bereits im Jahr 1870, also in der Phase aktiver Kriegshandlungen, dokumentiert der Verfasser wiederholt freundliche bis persönliche Begegnungen mit der französischen Bevölkerung. Von systematischer Ablehnung oder gar Feindseligkeit ist in den erhaltenen Einträgen nichts zu finden. Im Gegenteil: Schulenburg schildert seine Wirte mit Namen, beschreibt liebevolle Details des Quartierlebens und begegnet französischen Adeligen wie dem Herrn von Segonzac oder dem Comte d’Hinnisdal auf Augenhöhe.
Beispielhaft ist der wiederholte Aufenthalt in Houdan, wo „jeder sein altes Quartier aufsuchte“ – eine Formulierung, die sowohl von Stabilität als auch von einer gewissen Bindung an die lokalen Gastgeber zeugt. Auch das Ehepaar Deseulle in La Neuve-Lyre wird lobend erwähnt, als Schulenburg betont, wie schwer ihm der Abschied von den „liebenswürdigen Wirtsleuten“ gefallen sei. Die regelmäßige Erwähnung der Gastfreundschaft, des guten Weins, der Vertrautheit mit der Umgebung und des wiederholten Wiedersehens relativiert die verbreitete Vorstellung einer rein antagonistischen Besatzungssituation.
Natürlich sind diese Beobachtungen nicht ohne Kontext zu verstehen: Schulenburg bewegte sich als Offizier in einem relativ geschützten Raum, hatte Zugang zu besseren Unterkünften und bewegte sich oft in Gegenden, die nicht direkt vom Krieg verwüstet waren. Doch gerade diese Konstellation macht seine Beobachtungen wertvoll: Sie zeigen, dass zumindest ein Teil der französischen Bevölkerung pragmatisch, mitunter auch herzlich auf die Präsenz der preußischen Armee reagierte – sei es aus Notwendigkeit, Resignation oder echtem persönlichen Kontakt.
Ein besonders eindrückliches Bild vermitteln Schulenburgs persönliche Begegnungen mit französischen Gastgebern und Adeligen, die nicht nur durch höfliche Duldung, sondern häufig durch aktive Freundlichkeit geprägt waren. In La Neuve-Lyre beispielsweise beschreibt er detailliert die herzliche Beziehung zu Monsieur und Madame Alfred Deseulle, bei denen nicht nur er, sondern auch seine Kameraden „sich sehr wohl befinden“. Beim Abschied fließen Tränen – ein Ausdruck echter zwischenmenschlicher Bindung. Auch auf dem Schloss des Monsieur de Segonzac, wo der französische Hausherr beim Klang des Namens „Schulenburg“ in sichtbare Rührung gerät, wird deutlich, dass adlige Netzwerke nationale Gegensätze überbrücken konnten. Segonzac erklärt, ein enger Freund mit diesem Namen sei vor fünf Jahren verstorben – ein Hinweis auf die wechselseitigen historischen Verflechtungen europäischer Eliten. Diese Beispiele belegen, dass sich Schulenburg nicht in einem feindlichen, sondern in einem vielfach kooperativen oder sogar sympathisierenden sozialen Umfeld bewegte – eine Erfahrung, die sich wiederholt in seinen Tagebucheinträgen spiegelt.
Die vergleichsweise freundliche oder pragmatisch-neutrale Haltung vieler französischer Zivilisten gegenüber den preußischen Besatzern im Krieg 1870/71 – wie im Tagebuch von Fritz von der Schulenburg dokumentiert – lässt sich durch Kriegsmüdigkeit, regionale Unterschiede, soziale Nähe und disziplinierte Besatzungspolitik erklären. Besonders in weniger umkämpften Gegenden wie der Normandie empfanden viele die Präsenz der deutschen Truppen eher als Stabilisierung denn als Bedrohung. Schulenburgs Status als Offizier ermöglichte zudem Kontakte zum französischen Landadel, wodurch sich auf aristokratischer Ebene gegenseitige Wertschätzung und sogar persönliche Sympathie entwickelten. Respektvolle Behandlung, Bezahlung von Einquartierungen und höfisches Auftreten stärkten das Vertrauen – das Feindbild trat vielerorts zugunsten persönlicher Begegnungen zurück.
Mit dem Beginn des Jahres 1871 – insbesondere nach der Proklamation des Deutschen Kaiserreichs und der Unterzeichnung des Waffenstillstands – verschob sich die Wahrnehmung der deutschen Truppen in der französischen Bevölkerung teilweise. Das Tagebuch Schulenburgs dokumentiert nun verstärkt Momente der gesellschaftlichen Öffnung, aber auch vereinzelte Anzeichen wachsender Distanz, etwa in Mantes, wo die zuvor freundlich gesinnten Einwohner „nicht mehr recht viel von ihnen wissen wollten“. Dennoch überwogen weiterhin persönliche Begegnungen mit französischen Gastgebern, etwa bei den Familien de Segonzac und Deseulle oder bei Besuchen auf Châteaus wie Tilleloy und Sorel. Die Stationierungszeit wurde zunehmend vom Alltag des Garnisonsdienstes, von gegenseitigen Besuchen und Frühlingsausflügen geprägt – ein Indikator für eine weitgehende Normalisierung der Besatzungslage. Schulenburgs Aufzeichnungen zeigen damit exemplarisch, wie aus einem militärischen Ausnahmezustand mitunter stabile, respektvolle und sogar freundschaftliche Beziehungen hervorgehen konnten – getragen von persönlichem Verhalten, sozialer Nähe und dem pragmatischen Umgang mit den politischen Realitäten nach dem Krieg.
Damit steht das Tagebuch im Kontrast zu vereinfachten Deutungen, die den Krieg als bipolare Konfrontation von „Besatzer“ und „Zivilist“ begreifen. Es zeigt die Vielschichtigkeit individueller Erfahrungen im Krieg und dokumentiert jene Graubereiche zwischen offizieller Feindschaft und privater Verständigung, die in der kollektiven Erinnerung oft verblassen.
Fazit: Die Einträge Friedrich Wilhelm Christoph Daniel von der Schulenburgs aus dem Jahr 1870 zeigen eine französische Zivilbevölkerung, die weniger von Ressentiment als von pragmatischer Koexistenz, Gastfreundschaft und gelegentlicher Nähe zum Gegner geprägt ist. Damit liefert das Tagebuch einen bedeutenden Quellenbeitrag zur Differenzierung der Wahrnehmung deutsch-französischer Begegnungen im Deutsch-Französischen Krieg und mahnt zu einer nuancierteren Betrachtung militärischer Besatzungssituationen im 19. Jahrhundert.